Die
Mutation des Katers Lord
Vor einigen Tagen ist
gegenüber von mir ein junges Mädchen eingezogen. Sie ist wohl nur nachts aktiv,
da bei Tage die Vorhänge immer zugezogen sind, und man keine Bewegung
wahrnimmt. Anfangs hat mich das nicht sonderlich interessiert, und ich habe nur
selten von meinem Zeichenbrett aufgeschaut. Aber irgendwie wurde dann doch
meine Neugier geweckt. Man will ja schließlich wissen, wer so in der
Nachbarschaft wohnt.
Auch Lord, mein
Angorakater, wollte das ergründen. Vor ein paar Tagen sah ich ihn auf dem
Geländer des Balkons balancierend hinüberschleichen. Unhörbar und vorsichtig
sprang er herunter und versuchte, zwischen den Vorhängen der Balkontüre etwas
zu erspähen. Man konnte sein leises Miauen hören. Er schlich den Balkon
entlang. Aber scheinbar war nichts Interessantes zu beobachten, und so kam er
wieder zurück. Er nahm zu meinen Füßen Platz und rollte sich ein. Ich konnte
ein unwilliges Schnurren hören, wie mir schien. Und er war angespannt. Das
zeigte sein Schwanz ganz deutlich. Die Spitze blieb keinen Moment lang ruhig.
Sie ging hin und her, und auch die Ohren waren dauernd in Bewegung.
Die Unruhe meines
Katers steckte mich an. Zwischen den einzelnen Zeichnungen legte ich immer
öfter den Bleistift fort und blickte hinüber zu dem leeren, einsamen Balkon.
Heute legte sich die Dämmerung
schon früh über die Stadt. Es war Herbst, und die Tage wurden kürzer. Da, eine
Bewegung gegenüber. Ein nackter Arm erschien zwischen den Vorhängen, und die
Balkontüre wurde einen Spalt breit geöffnet. Dieser nackte Arm erregte mich. Er
war wie eine lockende, mich fordernde und zugleich in die Schranken weisende
Geste. Ich stand auf und trat an die Balkontüre. Auch Lord hatte die Bewegung
bemerkt und schoss augenblicklich zwischen meinen Füßen hindurch. Ich
beobachtete ihn, wie er wieder über das Geländer balancierend auf leisen Pfoten
den gegenüberliegenden Balkon erreichte und durch den Türspalt im Zimmer verschwand. Ja, so eine Katze hat eben andere
Möglichkeiten als wir.
Ich kehrte zu meinem
Schreibtisch zurück, knipste die Lampe an und versuchte weiterzuarbeiten. Doch
meine Gedanken waren bei Lord. Was machte er da drüben so lange? Normalerweise
war er sehr scheu. Dieses ‚Hingezogensein’ zu meinem Gegenüber wunderte mich.
Inzwischen war es dunkel geworden, und meine Neugier wurde immer intensiver. Ich trat auf den Balkon
hinaus und begann, meinen Kater zu rufen. Da öffnete sich die Türe ganz, und
meine neue Nachbarin erschien. Auf dem Arm trug sie Lord, der sich an sie
schmiegte und sich mit geschlossenen Augen von ihr kraulen ließ.
Sie trug ein langes,
schwarzes Hauskleid, sehr weit und mit glitzernden Effekten ausgestattet, die
bei jeder Bewegung kleine Lichtpunkte aussandten. Ich bemerkte ihren tiefen
Ausschnitt, gerahmt von Lords felligem
Körper. Mein Kater genoss es sichtlich, mit ihrer nackten Haut in Berührung zu
kommen. Ihr Lächeln war geheimnisvoll und verhalten. Es schien durch die
Dunkelheit zu mir herüberzuleuchten. Ihr langes Haar berührte ihre Schultern
und umrahmte ihr blasses Gesicht mit dunklen, brennenden Augen. Sie neigte den
Kopf etwas seitwärts und entließ Lord mit einer kurzen Bewegung auf den Boden.
Dort entdeckte ich
eine weitere Katze, die neben ihren Beinen stand, und sich mit erhobenem
Schwanz an ihnen rieb. Beide, Lord und diese fremde Katze, rieben nun ihre
Köpfe aneinander, und eine seltsame
Vertrautheit schien zwischen ihnen zu sein. Sie schnurrten und knurrten und
wälzten sich schließlich auf dem Boden. Ich hob meine Hand und deutete einen
Gruß an. Meine Nachbarin hob die linke Schulter und ihre kleine entzückende
Hand. Inzwischen war Lord auf meinen Balkon zurückgekehrt und schmiegte sich an
mein Bein. Es war eine Geste, mit der er um Entschuldigung bat für sein langes
Ausbleiben. Wir gingen hinein. Der Abend verlief sehr ruhig. Ich las, und Lord
saß an der Balkontüre und schaute unentwegt hinüber. Meine Nachbarin musste
weggegangen sein, denn es brannte kein Licht, und keine Bewegung war
auszumachen.
Die Nacht schritt voran, dunkel und spröde wie
schwarzes Glas. Ich lag in meinem Bett und wälzte mich hin und her. Ich hatte
den Eindruck, dass diese dunklen, brennenden Augen über mir wachten. Dieses
geheimnisvolle Lächeln und die vollen Lippen kamen mir immer näher. Lord lag am
Fußende meines Bettes. Ich hörte sein leises Schnurren, das mir seltsam
verändert vorkam. Es war lauter, unruhiger. So, als würde er schlecht träumen.
Ich sprang auf und öffnete die Balkontüre etwas weiter, um frische Luft
hereinzulassen. Dann legte ich mich wieder auf mein Bett. Mit offenen Augen
starrte ich an die Decke und sah vereinzelt Lichter von draußen sich am Plafond
treffen und wieder verschwinden.
Allmählich spürte
ich, wie sich endlich der Schlaf einstellte. Er kam wie ein Schatten über mich,
senkte sich langsam herab. Ich
schloss die Augen, und der Schatten
legte sich warm und weich auf mich. Ich spürte den Hauch des tiefen Schlafes.
Geheimnisvolle Wesen flüsterten mir unglaubliche Worte ins Ohr. Die Bettdecke
wurde zu einem fordernden, drängenden
Körper, mich umschlingend und umschließend. Ich spürte weiche, warme Lippen,
die meinen Hals berührten, und dann einen stechenden Schmerz, als sich kräftige
Zähne in meinen Hals bohrten. Doch ich empfand diesen Schmerz wie das Liebkosen
mit roten Rosen voller Dornen. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Es hob mich
empor. Ich schwebte zwischen Himmel und Erde, und ihr weißes Gesicht leuchtete
über mir.
War es ein Traum? Ich
öffnete meine Augen und versank in einem tiefschwarzen Augenpaar mit grünen
Lichtern und einem furiosen Feuerwerk. Ihr federleichter Körper löste sich von
meinem, hielt über mir Sekunden lang inne, um sich dann schwebend in Richtung der Balkontüre zu entfernen. Dort
saß Lord mit funkelnden Augen. Sein Fell war gesträubt. Mein Angorakater hatte
ein prächtiges Volumen. Seine Augen zeigten ein eigenartiges Feuer, und seine
spitzen Eckzähne waren deutlich zu sehen. Wir waren eine Einheit, spürten
unsere totale Übereinstimmung. Schlagartig wurde mir klar, dass Lord und ich in
eine andere Welt eingetreten waren. Eine Welt, die darauf wartete, von uns
weiter erforscht und ausgelotet zu werden. Dieser wunderbare Körper, der vor
wenigen Minuten in mir aufgegangen war, schwebte wie selbstverständlich zum
gegenüberliegenden Balkon und verschmolz mit der Dunkelheit des Raumes.
Wusstest du, dass
Vampire Haustiere haben? Ich habe Lord, meinen Angorakater.