5. Die kleine Hexe Samantha und
der böse schwarze Vogel.
von Joana Angelides
Die kleine Hexe Samantha
lief durch den Märchenwald und trällerte ein lustiges Lied vor sich hin. Sie
hatte heute die Prüfung in der Waldschule bei Frau Eule, der Lehrerin bestanden
und durfte ab sofort Kräutersäfte und Heilsalben herstellen. Sie hatte
allerdings ein striktes Verbot erhalten, noch jemals ihre Zaubersprüche zu
verwenden. Denn immer, wenn sie das tat, trat etwas Unvorhersehbares ein. Sie
war zwar als Hexe geboren, aber absolut ungeeignet dafür.
Das wußte sie
inzwischen auch. Obwohl sie immer nur Gutes tun wollte mit ihren Hexenkräften,
irgendwas machte sie immer falsch.
Heute hatte sie
nichts mehr zu tun, und die Schule war nun eine Woche geschlossen, weil Frau
Eule, die Lehrerin sehr verkühlt war und immer, wenn sie wegfliegen wollte,
niesen mußte und dann immer an irgendeinen Baum anstieß. Frau Eule hatte
beschlossen zu Hause zu bleiben.
Samantha beschloß,
einmal bis zum Rand des Märchenwaldes zu gehen um zu sehen, was denn wohl dahinterlag.
Sie kam am See vorbei
und schaute den Waldfeen zu, wie sie sich im Wasser spiegelten und ihre Haare
kämmten. Sie waren wunderschön anzuschauen, mit ihren langen goldenen Haaren.
Die Wasserrosen schwankten am Wasser hin und her und einige Frösche lagen faul
auf den breiten Blättern und warteten darauf, vorbeifliegende Fliegen
einzufangen. Eine Libelle flog über den See und rief nach den Glühwürmchen. Sie
wollte mit ihnen am Abend über der Waldlichtung tanzen.
„Wo gehst du hin
Samantha?“ Rief die Waldfee Fari hinter Samantha her.
„Ich will das Ende
des Märchenwaldes suchen, um zu sehen, was dahinter ist.“
„Bleibe da, das Ende
ist hinter dem Wasserfall. Wenn du da durchgehst, bist du pitschnass. Außerdem
besteht die Gefahr, daß du nicht mehr zurückfindest. Auch ist die Welt da
draußen voller Gefahren und fremder Wesen“ rief Fari besorgt hinter ihr her.
Aber Samantha hörte
sie gar nicht mehr. Sie hatte den Wasserfall gefunden und der war so laut, daß
man gar nichts anderes hören konnte.
Sie stand nun vor dem
Felsenausgang, der in die andere Welt hinausführte, doch der Weg war versperrt
durch diesen großen Wasserfall. Wassermaßen stürzten mit großem Getöse herab
und ergossen sich in ein tiefes natürliches Becken.
„Wie soll man denn da
rüberkommen?“ Flüsterte Samantha.
Da breitete sich ein
dunkler Schatten über ihr aus und ein großer Vogel mit breiten Schwingen
schwebte über ihr. Er war so groß und sah so Furcht erregend aus, daß Samantha
sehr erschrocken beide Hände vor das Gesicht hielt.
„Ich trage dich
hinüber,“ krächzte der Vogel und seine Krallen senkten sich langsam auf
Samantha hinunter.
„Nein, nein ich habe
Angst vor dir, und auch Angst in das Wasser zu fallen, ich kann ja nicht schwimmen.“
„Es wird dir nichts
geschehen, ich halte dich fest. Allerdings mache ich das nicht umsonst!“
„Oh, was willst du
denn dafür?“ Ängstlich schaute Samantha zu dem schwarzen Vogel hinauf.
„Ich will deine
Zauberkräfte.“
Samantha lächelte
unter ihrer vorgehaltenen Hand. Na, diese Zauberkräfte kann er haben, denn ihre
Zauberkräfte bewirkten bisher immer nur mittlere Katastrophen.
„Einverstanden,“
sagte sie, „aber vorher trage mich hinüber und durch den Wasserfall hindurch,
dann werde ich dir meine Zauberkräfte übertragen.“
„Ist gut, aber wenn
du mich belogen hast, wenn du sie mir dann nicht gibst, dann werde ich dich mit
meinen Krallen packen und ganz weit forttragen, auf eine hohe Bergspitze
hinauf, wo du nie wieder zurückfindest!“
„Nein, nein, ich betrüge
nicht,“ versicherte Samantha. Sie wollte unbedingt sehen, was außerhalb des
Märchenwaldes war.
Da nahm sie der Vogel
mit seinen Krallen und flog mit ihr über das große Wasserbecken und durch den
Wasserfall und dem Felseneingang hindurch und setzte sie am anderen Ende auf
die Erde.
Doch was war da?
Samantha war ganz erschrocken. Vor ihr lag ein großes Tal, unten sah sie eine
große Stadt, mit großen Ungetümen, zwischen den Häusern die laute Geräusche
machten, das waren wohl sogenannte Autos, die hinter sich eine schwarze Wolke
herzogen, es stank fürchterlich. Im Wald vor der Stadt waren Menschen damit
beschäftigt, die Bäume abzuschneiden, sie auf Lastwagen zu verladen und
abzutransportieren. Sie hörte das Weinen der Bäume und das ängstliche
Gezwitscher der Vögel, die darin ihre Nester hatten. Lauter Wirbel war zu hören, Samantha hatte
gehört, die Menschen nannten es Musik.
„Ich will wieder
zurück,“ rief sie ganz entsetzt.
„Das geht nicht
mehr,“ krächzte der Vogel. „Du hast mir deine Zauberkräfte versprochen und ohne
Zauberkräfte hast du im Märchenwald nichts verloren, du bist dann keine Hexe
mehr, aber auch keine Fee. Aber ich werde in den Wald zurückkehren und mir dann
mit deinen Zauberkräften alles nehmen was mir gefällt und alle müssen dann
machen, was ich will.“
Samantha schaute ihn
ganz verzweifelt an. Da hatte sie ja wieder was ganz Entsetzliches angestellt!
„Ich kann dir diese
Kräfte aber nur im Märchenwald geben, da hier draußen habe ich ja keine,“ log
sie.
Der Vogel beäugte sie
ganz mißtrauisch. Und wenn sie ihn nun belog? Aber er wußte nichts einzuwenden
und so sagte er:
„Na gut, wir werden
wieder durch den Wasserfall durchgehen, aber ich werde dich nicht über das
Becken tragen, sondern du wirst mir deine Kräfte gleich dort übergeben, denn
das ist noch das Gebiet vom Märchenwald und dann wirst du wieder hierher zurückgehen.“
Samantha dachte kurz
nach und sagte:
„Na gut, aber ich
weiß nicht, ob meine Kräfte auf Vögel auch wirklich übertragbar sind. Was ist,
wenn das nicht geht?“
„Mir ist das egal,“
sagte der Vogel, „dann verwandle mich in irgendein Tier, Hauptsache ich kann
hexen.“
Er nahm die kleine
Hexe wieder mit seinen Krallen auf und sie flogen wieder durch den Wasserfall
zurück. Inzwischen war die kleine Hexe pitschnass geworden. Kein Wunder,
zweimal mußte sie nun schon durch den Wasserfall durch. Schon beim ersten Male
hatte sie die Schuhe verloren, die Haare hingen ihr ins Gesicht und das Gewand
klebte an ihr.
Der schwarze Vogel
setzte sie auf einen großen Stein und sah sie drohend an.
„Also?“
Samantha schloß die
Augen, legte die Hände davor, nicht ohne zwischen zwei Fingern hindurch zu
schauen und sagte wieder einmal einen Zauberspruch aus dem Gedächtnis. Sie
hatte natürlich ein furchtbar schlechtes Gewissen, denn sie sollte ja nicht hexen.
Aber das war was Anderes, sie wollte den Märchenwald retten und natürlich auch
sich selbst!
„Psarirumrum,
Polterdidi, schwimm.“ Sie wollte, daß
der Vogel ein Fisch würde. Da war er dann im Wasser gefangen und konnte
hoffentlich keinem mehr was tun.
Aber, wie immer,
fehlte ein Wort in diesem Zauberspruch und der große schwarze Vogel wurde zu
einem grauen Plastikboot in Form eines Delphins, das am Wasser schwamm. Es
hatte sogar ein Ruder.
Samantha schaute das
Boot mit großen erstaunten Augen an. Was war denn das schon wieder?
Doch im selben
Augenblick wurde ihr klar, daß sie durch diesen falschen Spruch gerettet war!
Sie konnte mit diesem
Boot ja ans andere Ufer rudern und war in Sicherheit!
Sie sprang in das
Boot, nahm das Ruder und versuchte ans andere Ufer zu kommen.
„Na, das wird dir
aber mit nur einem Ruder nicht gelingen.“ Sagte da eine tiefe Stimme aus dem
Wasser. Es war der Karpfen Jonathan, der in diesem Wasserbecken zu Hause war.
Er schüttelte den Kopf. Diese kleine nasse Hexe wußte ja rein gar nichts.
„Was ist denn das für
ein häßliches Boot?“ fragte er und beäugte das Plastikboot mißtrauisch.
„Ach. Ich habe den
großen bösen schwarzen Vogel verzaubert und jetzt ist er zu diesem Boot
geworden.“
„Na, sowas! Das wird
ihn aber gar nicht freuen! Na gut, ich werde dich hinten anstoßen und ans
andere Ufer schieben,“ sagte Jonathan seufzend.
„Oh ich danke dir!“
Und so kam das kleine Hexlein, zwar pitschnass, aber
wohlbehalten am anderen Ufer an und sprang heraus.
„Das Boot werde ich
hier anbinden, damit es nicht wegtreibt. Ich werde die Feenkönigin fragen, was
wir mit dem Boot machen werden.“ Sagte Samantha und lief durch den Wald wieder
zurück.
Als sie am See
vorbeikam, schauten sie alle ganz erstaunt an und die Waldfeen riefen:
„Ja Samantha, wie
schaust du denn aus? Du bist ja ganz naß! Warst du auf der anderen Seite des
Wasserfalles?“
„Ja, war ich, aber
ich gehe dort nie wieder hin!“ Rief sie und lief ins Schloß zurück.
Die Waldfeen
lächelten, sie hatten schon vorher gewusst, dass Samantha wieder zurückkommen
wird.
Im großen Schlafsaal
im Schloß zog sie ihre nassen Kleider aus, duschte ganz warm, wickelte sich in
eine Decke ein und schlief den ganzen Nachmittag, den Abend und auch die ganze
Nacht hindurch, tief und fest.
Sie träumte von
großen schwarzen Vögeln, lauten Wasserfällen und einem Delphin, der im großen
Wasserbecken herumschwamm.
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