Blumen aus Glas
Von Joana Angelides
Er wird heute, wie
vor langer Zeit in seiner Kindheit, wieder einmal durch die Wand des
Gewächshauses ins Reich der Glasblumen gehen. Das war beschlossene Sache.
Er erinnerte sich, dass er das als kleiner Bub öfter getan hat. Doch mit der
Zeit und dem Älterwerden wurde diese Erinnerung ins Reich der Fantasie
geschoben und dann irgendwann fiel es dem Vergessen anheim. Besonders als
Großvater eines Tages verschwand; er war der einzige, mit dem er dieses
Geheimnis teilte.
Es hieß er sei wieder zur See gegangen und Großmutter schwieg beharrlich.
Irgendwann erreichte ihn die Nachricht, dass das Haus verlassen war und er als
Erbe für die Erhaltung zuständig sei. Es gab außer einem Testament von
Großmutter keine weiteren Unterlagen. Auch nicht über ihren Tod, der den
Gerüchten nach, kein natürlicher war. Sie soll der Fluss eines Tages mit sich
gerissen haben.
Dann stand das Haus viele Jahre einfach nur so da.
Er war gerade pensioniert worden und bezog das Haus, wollte den Rest seines Lebensabends
hier verbringen. Er besuchte das Grab, das Großmutter schon zu ihren Lebzeiten
gekauft und mit einem Grabstein ausgestattet hatte. Sie ließ ihren und den
Namen von Großvater eingravieren und legte dann immer ein paar Blumen aufs
Grab. Sie waren für Großvater gedacht, von dem sie nicht wusste, ob er nun
lebte oder in der Fremde verstorben war.
Dieses Grab war sein einziger Bezugspunkt zu den Großeltern, den er noch hatte.
Doch gestern, als er so an seinem Rollstuhl gefesselt, alleine im Gewächshaus
war, seine Orchideen umsorgte, sie besprühte und hin und wieder ein Blatt
entfernte, fiel ihm diese alte Geschichte wieder ein.
Er liebte seine Orchideen, sie waren für ihn wie Kinder, die er hegte und
pflegte. Fast seine ganze Zeit verbrachte er im Gewächshaus. Immer wenn eine
Orchidee verwelkte, war es wie der Tod ohne Wiederkehr eines Kindes. Was würde
er dafür geben, wenn er diese Wunderwerke der Natur für immer konservieren
könnte. Au0erdem dachte er mit großer Sorge an die Zukunft. Was wird mit seinen
Orchideen geschehen, wenn er von dieser Welt abberufen wird?
Da fiel ihm eben wieder das lange vergessene Reich der Glasblumen ein.
Aus Glas würden sie dort für ewig blühen und nie vergehen. Der Wunsch, sie für
die Ewigkeit zu erhalten, wurde daher immer stärker. Er wusste noch, dass es
nur dann funktionierte, wenn der Himmel mit Wolken-Schleiern übersät war und
sie der Wind vor sich hertrieb. Dann fiel das Sonnenlicht nur gedämpft durch
das pyramidenähnlich gebaute Glashaus. Und das trügerische Licht zauberte
damals Gestalten und Schatten auf die Glas-Wände und aus den Ecken kamen
seltsam verdrehte und verschnörkelte Triebe hervor, die wie lange gierige
Finger nach ihm griffen. Sie machten ihm Angst und er flüchtete sich dann immer
zu seinem Großvater, der draußen im Garten den Rasen pflegte und das Unkraut
jätete.
"Wollen dich die
Glasblumen wieder holen?", fragte er dann und strich ihm über den Kopf.
"Ja, sie strecken ihre Triebe durch die Wände und versuchen, mich zu
umschlingen!", rief er dann immer ängstlich.
"Du solltest keine Angst haben, kleinen Kindern und alten Leuten sind sie
immer freundlich gesinnt. Komm wir gehen gemeinsam zu ihnen."
Er nahm ihn dann immer bei der Hand und führte ihn in das Glashaus zurück bis
zu der rückwärtigen Wand, die an den Fels stieß. Mit seinen sehnigen, von der
Gartenarbeit gezeichneten Händen, berührte er dann den Fels und er öffnete sich
einen Spalt, der gerade so groß war, dass sie beide durchgehen konnten. Dann
schloss sich der Spalt wieder.
Drinnen standen sie vor einem großen Feld mit Sonnenblumen, die größer als er
selber waren. Die Blumenköpfe waren goldgelb glänzend und durchscheinend, sie
waren alle aus Glas. Ein leichter Wind ließ sie hin und her schwanken, dadurch
lag ein sonderbares Klirren in der Luft, das durch die Berührung der einzelnen
Blüten und Blätter entstand. Es war eine fröhliche, sich geheimnisvoll
verbreitende Melodie.
"Oh, Großvater,
das ist ja wunderschön!", rief er und bestaunte die leicht schwankenden
Stängel und gelben Blütenköpfe.
"Ja, aber bedenke, es sind keine echten Blumen, sie sind nur aus Glas. Sie
riechen nicht und sie können auch nicht wachsen. Siehst du dort den See, mit
den Seerosen? Auch alles aus Glas. Man kann in den See nicht eintauchen, die
Seerosen schwimmen auch nicht auf der Oberfläche, sie bleiben immer an ihrem
Platz. Dafür verwelken sie aber auch nicht, sie bleiben immer so wie sie jetzt
sind."
Der Großvater strich ihm damals mit der Hand abermals über den Kopf.
"Es ist aber eine unwirkliche Welt, keine Welt für Menschen aus Fleisch
und Blut."
"Ich finde das aber trotzdem wunderbar! Ich muss immer weinen, wenn eine
Blume verwelkt! Gibt es auch Orchideen hier?" Er liebte schon damals die
Vielfalt der Orchideen.
"Ja, da rückwärts, links neben dem See. Sie haben alle Formen und Farben,
die du dir vorstellen kannst und die jemals in unserem Glashaus gezüchtet
wurden. Sie stehen in Glastöpfen, sogar die Tautropfen der Blütenblätter sind
aus Glas. Und jene Orchideen, die normalerweise auf den Bäumen in den Urwäldern
wachsen sind ebenfalls vertreten, sie schwanken leicht im Wind und man kann
ihre Musik weit hören, wenn sie sich berühren. Es ist eine Zauberwelt und
schade, dass sie nur wenige Menschen betreten können. Nur unschuldige Kinder
und alte Leute können sie sehen. Aber auch nur für kurze Zeit, bis die Sonne
untergeht. Dann müssen wir wieder zurück sein, sonst werden wir auch zu Glas
und müssen für ewig hier bleiben."
Er erinnerte sich, wie erschrocken er über diese Worte war und rannte sofort wieder
zu der Stelle, wo die Öffnung vorher war. Großvater berührte diese Stelle
wieder mit seiner Hand und sie traten zurück ins wirkliche Leben.
Großmutter schüttelte jedes Mal den Kopf, wenn er ihr davon erzählte.
"Du solltest den Geschichten von Großvater keinen Glauben schenken, das
weißt du doch! Er hat eine blühende Fantasie!"
Das sagte sie jedes Mal. Er scheute dann davor zurück, ihr zu erzählen, dass
sie beide, Großvater und er, in dieser Welt waren, dass sie wirklich
existierte.
Das war vor langer Zeit.
Mit einem entschlossenen Ruck drehte er seinen Rollstuhl in die Richtung, wo
sich spezielle Züchtungen befanden. Er wählte vier Orchideenstämme aus, die in
den letzten Jahren mit internationalen Preisen ausgezeichnet wurden.
Nachdem er einen prüfenden Blick auf den etwas verhangenen Himmel geworfen
hatte, lenkte er den Rollstuhl zielstrebig in den hinteren Teil des Raumes.
Zögernd hob er seine Hand und berührte leicht zögernd, die Felswand.
Wie durch Zauberhand, als ob die Zeit still gestanden hätte, öffnete sich
wieder ein Spalt und er konnte einfach hindurch fahren.
Wieder umfing ihn diese wundersame Welt der Glasblumen. In all den vielen
Jahren schien sich hier nichts verändert zu haben. Dieses seltsame Klirren und
melodische Klingen lag in der Luft wie ehedem. Die Blumen und Pflanzen rundum
waren bunt und fast durchsichtig. Man konnte meinen, in einem wunderbaren
Garten zu stehen. Das einzige was fehlte und fast gespenstig anmutete, war das
nicht vorhandene Gesumme der Bienen, das Vogelgezwitscher oder das Rauschen
eines Baches. Die Äste eines Baumes schienen sich zu ihm herunter zu beugen,
doch er wich aus und suchte mit den Blicken die Orchideen, von denen Großvater
damals sprach.
Er war schon eine Weile hin und her gefahren, als er sie endlich fand.
Fassungslos stoppte er seinen Rollstuhl, um die ungeheure Farbenvielfalt in
sich aufnehmen zu können.
Vom zarten Weiß bis zum strahlenden Violett und zarten Rosa fanden sich alle
Schattierungen. Mitten unter ihnen, die von Großvater gezüchtete Königin von
Saba". Eine weiße Orchidee, die tief in ihrem Kelch in ein zartes Rosa
überging und deren Blütenstab in einem tiefen Weinrot aus der Mitte
herausragte.
Und da, die von ihnen gemeinsam gezüchtete "Mondblume". Eine
flamingofarbene, mit vielen kleinen Blüten besetzte Rispe, die sich leicht zu
bewegen schien.
Sein Auge eilte von Blüte zu Blüte, er wusste noch alle ihre Namen und wann sie
zum Blühen gebracht wurden. Natürlich gab es einige, die wahrscheinlich in
seiner Abwesenheit gezüchtet wurden, doch kannte er die mit vielen Preisen
ausgezeichneten aus der einschlägigen Fachpresse.
Dann sah er ihn. Mitten in diesem Paradies aus Glas gab es eine Gartenbank.
Halb verdeckt von einem Hibiskusstrauch mit großen Blüten, saß Großvater.
Er sah wie lebendig aus und war doch ganz aus Glas. Seine braunen Augen
blickten ihn direkt an und er erschauderte. Die rechte Hand des Mannes aus Glas
hielt eine Orchidee in einem durchsichtigen Glas in Augenhöhe, so als wollte er
die Wurzel prüfen. Mitten in der Bewegung musste er erstarrt sein. Er hatte wie
immer seine Schürze an, in der einige Gartenwerkzeuge steckten. Sie waren auch
zu Glas geworden. Es stieg heiß ihn ihm auf. Wie konnte das geschehen? Hatte er
die Zeit vergessen, war er zu lange hier geblieben? Man wird es nie ergründen
können.
Er rollte ganz nahe an ihn heran, berührte sein altes Gesicht mit der Hand und
strich darüber. Es fühlte sich kalt, glatt und leblos an. Ein wenig zögernd
stellte er die mitgebrachten Orchideen zu den anderen. Er hatte es plötzlich
eilig, wieder zurück zu fahren.
Als er durch den sich öffnenden Spalt wieder seine reale Welt betrat, atmete er
tief und gierig die Luft ein und fühlte sich irgendwie erleichtert. Das
seltsame Schicksal des Großvaters berührte ihn sehr und er fragte sich
natürlich, wie gefährlich es wirklich war, in diese fremde, unwirkliche
Glaswelt einzutauchen.
In den folgenden Tagen stand er mehrmals vor der hinteren Felswand und starrte
sie an. Es zog ihn hinüber, er wollte diese Welt wieder betreten, wollte sehen,
ob die von ihm dort abgestellten Orchideen nun ebenfalls zu Glas geworden
seien. Irgendetwas hielt ihn jedoch zurück, ließ ihn zögern.
Hörte er die leise, klirrende Musik oder gaukelte ihm nur seine Fantasie etwas
vor? Kam da nicht unter der Felswand ein gläserner Trieb hervor und drehte sich
suchend herum?
Wie von unsichtbarer Hand geschoben, rollte der Stuhl auf die Wand zu und er
musste sich mit seiner Hand abstützen. Durch die Berührung öffnete sich der
Spalt erneut und er fand sich wieder in dieser Welt aus Glas, die ihn anzog und
gleichzeitig abstieß.
Wie von Geisterhand geführt, rollte er durch sie hindurch, bis er wieder vor
Großvater zum Stehen kam.
Es war, als wäre er lebendig, seine braunen Augen blickten wie immer listig in
die Welt und doch war er völlig leblos, durchscheinend.
Er suchte mit den Blicken die gestern abgestellten Orchideen und stellte fest,
dass sie inzwischen ebenfalls zu Glas mutiert waren. Es geschah sicher, als die
Nacht hereinbrach und alles hier dunkel und kalt wurde.
Es schauderte ihm. Was war das für eine Welt? Er blickte auf seine Armbanduhr.
Er hatte noch eine Stunde Zeit bis zum Sonnenuntergang.
Er wollte diesmal auch die andere Seite erforschen und drehte den Rollstuhl
rechts herum. Da stockte ihm der Atem. Nicht weit von seinem Standort und dem
des Großvaters stand mit erhobenen Händen Großmutter.
Oh, war auch sie gefangen in dieser Welt, aus der es keine Rückkehr mehr gab?
Im Gegensatz zu dem alten Mann, der ruhig und entspannt erschien, drückte sie
das helle Entsetzen aus. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ja traten ihr fast
aus den Höhlen, der Mund zum stummen Schrei geöffnet und die Hände in
Verzweiflung erhoben.
Der Sonnenuntergang musste sie in dieser Verfassung überrascht haben. Es musste
augenscheinlich plötzlich geschehen sein, keine Zeit zu Flucht oder Rückzug
vorhanden. Doch wie kam sie hier her? Sicher hatte sie das Verschwinden ihres
Mannes überrascht. Vielleicht fiel ihr irgendwann die Geschichte mit den
Glasblumen ein. Sie wusste aber sicher nichts über das Zeitfenster, über die
Einschränkung zwischen Tag und Nacht. Das musste die Falle gewesen sein, in die
sie geriet.
Er spürte, wie plötzlich Panik in ihm aufstieg. Er wollte nur raus, zurück in
seine Welt. Durch die heftige Bewegung des von ihm gesteuerten Rollstuhles
ausgelöst, stieß er an einen der Sträucher an und es brach einer der Äste ab.
Es war ihm als hörte er plötzliches Zischen, es lag in der Luft, doch war nicht
zu eruieren, woher es kam.
Schlingpflanzen gleich, umschlangen plötzlich Triebe die beiden Räder und
brachten ihn zum stehen. Sie waren leicht gewunden, seltsam gedreht und
bedeckten den Boden. Sie schienen als einzige zu leben, bewegungsfähig zu sein.
Er erkannte sie; es waren diese Triebe, die ihn schon immer hinein ziehen
wollten in ihre Welt.
Mit einem Ruck befreite er sich aus den Schlingen, es brachen auch einige ab.
Das Zischen war noch immer zu hören. Er versuchte unter Zuhilfenahme seines
Stockes diese Triebe abzuwehren und hatte teilweise Erfolg. Er kam der
Fels-Wand, die das Leben bedeutete, immer näher, erreichte das Ziel mit letzter
Anstrengung und konnte den Spalt gerade noch passieren, bevor das Tageslicht
ganz erlosch.
Keuchend stoppte er den Rollstuhl und lehnte sich zurück. Dann griff er wieder
an das Rad, um das Glashaus zu verlassen.
Mit Entsetzen stellte er fest, dass die beiden gro0en Räder bis zur Hälfte
bereits aus Glas waren und ebenso seine Beine von den Knien abwärts.
"Nein!", sein Schrei verhallte ungehört. Wer sollte ihn hören?
Das Glashaus stand hinter dem Haus, angelehnt an die Felswand und umgeben von
einem kleinen Wäldchen. Er bewohnte das Haus allein, nur am Morgen kam eine
Haushälterin, um sich um die Belange zu kümmern.
Wie von Sinnen begann er seine "Kinder", die einzelnen Orchideen,
zusammen zu raffen, tauschte sie wieder aus und nahm andere dazu.
Er hatte plötzlich nur mehr einen Wunsch, er wollte zurück in diese Glaswelt,
um seine Orchideen dort einzugliedern, sie für immer zu konservieren und mitten
unter ihnen für alle Ewigkeit mit ihnen verbunden zu sein.
Die ganze Nacht fuhr er wie von Furien gehetzt umher, versorgte mit letzter
Kraft die restlichen Blumen, die er nicht mitnehmen konnte.
Als der Morgen langsam aufstieg, das Tageslicht sich in den Glasflächen brach,
fuhr er ungeduldig zur rückwärtigen Felswand und berührte sie.
Der Spalt ging sofort auf und er rollte, ohne noch einmal zurück zu blicken, in
die Welt des Glases. Er merkte gar nicht, dass sich der Spalt wieder schloss.
Für ihn gab es keine Wiederkehr, er hatte sich entschlossen, gemeinsam mit
seinen "Kindern" für ewig hier zu bleiben.
Als er bei der Bank ankam, auf dem Großvater saß, blieb er ruckartig stehen.
Ja, hier war sein Platz. Gemeinsam sollten sie ihre Orchideen bewachen. Er
ordnete die mitgebrachten Blüten nach Farben und stellte sie zu den anderen.
Dann blickte er stundenlang in das so vertraute Gesicht und es erschien ihm,
als wollte der alte Mann etwas zu ihm sagen. Doch nun, wo auch er schon alt
war, erschien ihm auch das nicht mehr wichtig.
Als sich die Sonne langsam neigte und die Nacht langsam aus allen Ecken kroch,
spürte er wie die Mutation bei ihm begann. Er fühlte sich kalt und bewegungslos
an und wartete auf den Tod.
Doch hier irrte er entsetzlich.
Er wurde zwar zu Glas, erstarrte in seiner letzten Bewegung, doch sein Geist
blieb wach, seine Gedanken rotierten weiter, alles ging ins Leere, er war
Gefangener einer Hülle aus Glas.
Es wurde ihm bewusst, dass es auch den beiden anderen so ergehen musste. Sie
sahen alles um sich herum, konnten denken aber nicht fühlen.
Wie lange wird es dauern, bis der Wahnsinn von seinem Geist Besitz ergreifen
wird?
Langsam kroch das Entsetzen in ihm hoch. So hatte er es sich nicht vorgestellt,
doch es gab keinen Weg zurück.
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