DER ENGEL VON GEGENÜBER
Gegenüber, im dritten Stock eines alten Patrizierhauses brennt wie in jeder Nacht, Licht. Schläft er nie?
"Er" ist
ein junger Mann, der scheinbar nur nachts arbeitet. Denn sie sieht jede Nacht
das Licht brennen und manchmal seine Gestalt an dem bis hinunterreichenden
Fenster vorbeigehen, die Schatten auf die zugezogenen Vorhänge wirft.
Durch die Vorhänge
hindurch kann man eine Sektion des Raumes sehen. Ein Schreibtisch mit einer
noch zusätzlichen Arbeitslampe beleuchtet den Arbeitstisch. Ein Computerschirm
ist zu erkennen und einige Bücher liegen herum. Man kann ihn dort regungslos
sitzen sehen, oder eifrig schreiben.
Er blickt hinüber zu
dem ebenfalls alten Haus gegenüber. Er
hatte schon öfters bemerkt, dass da ein junges Mädchen am Fensterbrett leicht
an den Fensterstock ihres Wohnzimmers gelehnt sitzt irgendein ein Manuskript in
der Hand hält, in dem sie hin und wieder blättert. Offenbar kommt da ein kleiner Windhauch und weht
eines der Blätter hinaus in die Nacht und es beschreibt einen weiten Bogen um
sich dann zur Straße hin zu senken.
Sie erscheint ihm im
Fensterrahmen wie eine Engelsgestalt. Sie trägt das Haar offen und über die
Schulter fallend. Ihre Haarfülle, dem leicht gewellten, naturblonden Haar,
strahlt von weitem wie ein Lichterkranz, unterstützt durch eine kleine Lampe im
Raum dahinter.
Das helle, weite,
durchsichtige Hauskleid mit den langen weiten Ärmel, das ihre Gestalt umspielt
und über ihre Knie gezogen ist, vermittelt den Eindruck einer Lichtgestalt.
"Dort oben sitzt
scheinbar ein Engel?" Der Mann kann seinen Blick nicht abwenden, so
fasziniert ist er von dieser Erscheinung. Dann lächelt er leicht. Ist es eine
Sinnestäuschung?
Die Nacht wird
kühler, ein leichter Wind kommt auf und spielt mit dem dünnen Stoff ihres
Kleides und lässt ihren Schal leicht flattern.
Er steht noch immer
regungslos gegenüber und blickt hinauf. Es scheint ihm, als würde sie jeden
Moment ihre Flügel ausbreitet und wegfliegen.
Sie lässt sich von der Fensterbank gleiten und entschwindet so seinen Blicken, löscht das kleine Lämpchen im Raum und geht ins Bett. Sie merkt gar nicht die helle Lichtgestalt, die kurz vor dem Einschlafen über sie goldenen Sternenstaub verstreut und so ihre Träume beeinflusst. Sie sieht im Dämmerschlaf die Gestalt im Schatten gegenüber vor sich und träumt, dass er unentwegt zu ihr hinaufblickte.
Der erste Blick des
Mädchens am Morgen, noch mit der Kaffeetasse in der Hand gilt dem Fenster
schräg unter ihr, gegenüber in dem schönen Patrizierhaus.
Alle Fenster und auch
die hohe Türe mit dem Gitter sind verschlossen und man kann keine Bewegung
sehen.
Irgendwie enttäuscht wendet sie sich ihrem Zeichentisch zu und beginnt zu arbeiten.
Abends die gleiche
Situation, wie gestern. Das Mädchen sitzt verträumt am Fensterbrett und liest
in ihrem Manuskript.
Gegenüber tritt der Mann an die offene Türe und blickte überrascht hinauf. Da war sie wieder, diese helle Gestalt, mit dem Lichterkranz um den Kopf und dem weißen, durchsichtigen Kleid, mit dem flatternden Schal, sein Engel!
Durch das Hochheben
der Arme, sah es einen Augenblick wieder aus, als würde dieser Engel wegfliegen
wollen.
Er überlegt sich, wie sich wohl das Haar anfüllen würde, wenn er mit seinen Fingern darin versinken würde? Wie würde der Engel, oder war es doch eine "Sie", wohl riechen? Nach weißem Leinen und Blüten, stellte er sich vor.
Sie sah ihn
ebenfalls, an das Gitter seiner Türe gelehnt und zu ihr hinaufblicken. In diesem
Moment war sie wie verwandelt. Sie genoss seine Blicke, die sie gar nicht
sehen, sondern nur spüren konnte, fing seine Gedanken auf und konnte sich nicht
entschließen, von der Fensterbank zu gleiten, um sich diesen Blicken zu
entziehen.
Sie beließ die Arme
oben und bewegte sich leicht, so wie als würde sie in sich in seinen Armen
räkeln.
Sie nahm ihre Arme
nun wieder herab und betrachtete den Mann am Fenster gegenüber. Seine Gestalt
schien größer geworden zu sein, sie meinte seine Augen vor sich zu sehen. Sie
spürte seinen Blick, wie er sich in ihre Seele senkte und sie nicht wieder losließ.
Die Arme leicht
ausgestreckt berührte er ihren Körper und sie fühlte sich von seinen Gedanken,
schwebend über die Dächer davongetragen.
Es mischte sich Traum
mit Wirklichkeit, ihre Haut wurde wie Seide und der leichte Luftzug der
Nacht gaukelte ihr Berührungen und ihre Haut liebkosende Lippen vor.
Es war, als würde ihr
ganzer Körper im Takte der sich bewegenden Zweige des Baumes vor dem Haus,
vibrieren. Es war Flüstern und Raunen zu hören, die Blätter summten ihr Lied
dazu.
Das Mondlicht
beleuchtete diese Szene mit seinem hellen weichen Licht und ließ alles
unwirklich erscheinen. Neben dem Mond konnte man den Abendstern blinken sehen
und sie stellte sich vor, wenn dann alle Menschen schlafen werden, dass sie Beide sich dort treffen.
Das Mädchen stellte
sich vor, der Abendstern wird sich im Schoße von Frau Luna niederlassen, sich
von der Sichel schaukeln lassen und erst mit der Morgendämmerung am Himmel
unsichtbar werden.
Lächelnd ob dieser
Träumereien, beschloss sie nun aber doch, wieder von der Fensterbank herab zu
gleiten und in der Dunkelheit des Raumes zu verschwinden.
„Er passt so
wunderbar zu Ihren Augen, mein Engel!“ Er überreicht ihr die Blumen.
Hört da jemand den
Pfeil des Amors durch die Luft schwirren?
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