SCHATTEN ÜBER DER STADT
Auszug aus dem Krimi "DER POLYP"
von Joana Angelides
Die letzten
Wochen waren schnell vorübergegangen. In der Gefühlswelt Kostas des Fischers
hatte sich sehr viel verändert. Er ging mit wesentlich mehr Aufmerksamkeit
durch die kleine Stadt, bemerkte die Veränderungen plötzlich viel stärker als
bisher, blickte besorgter in die traurigen lustlosen Augen einiger Freunde und
Nachbarn.
Mit
einem brennenden Schmerz in der Brust blickte er auf die neue Mole, die
wesentlich größer war, als die alte und bedauerte, dass es keine Bänke mehr
gab, um vormittags ein Schwätzchen dort abzuhalten. Sogar die Möwen schaukelten
weiter draußen, sie bekamen ja keine Brotkrumen mehr von den Leuten. Das laute
Hupen und Tuten der an- und abfahrenden LKW´s war ohrenbetäubend. Die Menschen
rundum waren ihm fremd, man sah ganz selten ein bekanntes Gesicht.
Es
wurde ihm wieder einmal schmerzlich bewusst, dass das alte Dorf, das nun zu
einer kleinen Stadt mutiert war, für ewig verloren war. Es war eine
irreversible Situation. Er spürte nahezu körperlich, wie sich die Fangarme eines
Polypen um das Dorf schlossen und eine Schleimspur hinterließ. Er griff sich an
den Hals und spürte einen Druck am Herzen.
Es
war wieder Freitag und er hatte sein Tagwerk hinter sich. Er hatte seinen
heutigen Fang, der nicht sehr üppig war, bei Penelope abgeliefert. Die
restlichen Fische, die sie nicht wollte, hatte er für Effi dort gelassen und schob
sein Rad den Weg entlang um nach Hause zu fahren. Bei der Abzweigung zum Weg
auf die Aussichtsplattform zögerte er ein wenig und bog dann doch ein. Er schob
das Rad fast bis hinauf und band es vor der Biegung an einen der Bäume am Rand
des Weges und ging die letzten Meter zu Fuß hinauf.
Er
zündete die Öllampe in der kleinen Minikapelle an, schob die Glastüre wieder zu
und verrichtete ein kleines Gebet. Im ganzen Land standen immer wieder so
kleine, kaum einen Meter große kleine Minikapellen. Man konnte dort ein Gebet
verrichten, Blumen oder etwas Öl für die Lampe hinterlassen. Betreut wurden sie
meist von den Witwen im Dorf.
Da
hört er plötzlich die raue Stimme Tsakiris, wie er im Befehlston offensichtlich
mit dem Diener sprach. Sie waren noch weiter weg, er konnte sie nicht sehen,
aber hören. Irgendetwas schien dieser
vergessen zu haben, er konnte nicht richtig verstehen, um was es sich handelte.
Aus
der Antwort des Dieners hörte man die Unterwürfigkeit heraus, er schien sich zu
entschuldigen. Sie kamen näher. Kostas wollte ihnen nicht begegnen, er zog sich
zwischen den Bäumen zurück und verschmolz dahinter mit dem Schatten.
Georgios
schob den Rollstuhl dicht an das Geländer der Aussichtswarte, richtete ihn so
aus, dass Tsakiris einen guten Überblick über das darunterliegende Tal, sowie bis
weit ins Meer hinaus hatte. Von hier aus konnte man auch den Hafen und die ein-
und ausfahrenden Fährschiffe und den regen Verkehr der LKW´s beobachten.
Georgios
breitete ihm die Decke über die Beine und fixierte den Rollstuhl an beiden
Seiten am Boden. Dann lief er wieder den Weg zurück, offensichtlich um das zu
holen, was sein Herr vermisste.
Die
Silhouetten des Mannes und des Rollstuhles hoben sich gegen das Sonnenlicht
scharf ab.
Kosta
starrte gegen die Sonne, sah das dunkle Schattenbild vor sich und ungeheurer
Hass stieg in ihm auf. Dieser Mann war schuld daran, dass sich die Insel total
verändert hatte, dass er und einige seiner Freunde ihre gewohnte Umgebung und
ihre Lebensart eingebüßt hatten. Dass nichts mehr so war, wie davor. Er
erinnerte sich wieder, wie vor einigen Monaten die Abrissbirne in sein Haus
hineindonnerte und wie die Mauern fielen und ihm ungewollt Tränen über die
Wangen liefen. Es war sein Vaterhaus, indem seine Familie seit einigen
Generationen gewohnt hatte. Als die Bagger kamen und die Mauerreste
wegschafften war er schon und auf dem Weg zum Haus seiner Tochter, wo er nun
ein Zimmer bewohnte, in dem er sich fremd fühlte.
Dass
es für viele auf der Insel eine willkommene Veränderung war, dass viele auch
Vorteile hatten, hatte er von Anfang an verdrängt. Er lebte nur in seiner Welt
und die war nun triste und eintönig.
Als
ihm Penelope den Inhalt der unfreiwillig erlauschten Unterhaltung zwischen
Tsakiris und seinem Diener weitererzählte, war auch der letzte Rest von
Lebensmut in ihm erloschen und einem Hass gewichen.
Ja,
er hatte sich kaufen lassen, war dem Reiz des Geldes erlegen, hatte sich an
diesen Mann, den er insgeheim „Polyp“ nannte, verkauft!
Da
war nur mehr Hass vorhanden! Hass auf das Schicksal, auf die neuen Machthaber
der Insel und vor allem Hass auf diesen Mann dort im Rollstuhl, der ihm alles
genommen hatte, was ihm nach dem Tod seiner Frau noch etwas bedeutete, das Fischen,
das Meer und seinen Stolz.
Langsam
trat er aus dem Schatten der Bäume hervor und näherte sich dem im Rollstuhl
sitzenden Mann.
„Ist
da Jemand?“, hörte er ihn fragen. Seine Schritte hatten Tsakiris aufmerksam
gemacht, doch konnte er sich nicht umdrehen, um nachzusehen, da er in den Stuhl
irgendwie eingeengt und angeschnallt war.
Kosta
blieb stehen, antwortete jedoch nicht.
„Georgios,
bist Du das, das ging aber schnell!“, sagte Tsakiris.
Kosta
machte zwei weitere Schritte heran.
„Nein,
es ist nur irgend so ein Schleimer aus dem Dorf“, sagte er laut.
Kosta
sah wie sich der Körper vor ihm versteifte. Tsakiris war erschrocken und fühlte
sich offenbar hilflos und angegriffen. Er hob eine Hand, als wollte er etwas
abwehren.
„Was
wollen Sie denn? Bitte gehen Sie weg!“, zischte er. Seine Augen gingen suchend
hin und her, er wünschte sich inständig, dass Georgios jeden Moment
zurückkommen möge. Die Stimme hinter ihm flößte ihm Angst ein.
Kosta
blickte auf den hilflosen Mann herab und erschrak über sich selbst. Was wollte
er eigentlich? Er spürte voller Entsetzen, dass er den Wunsch hatte, den Mann
samt seinem Rollstuhl in den vor ihm liegenden Abgrund zu stürzen. Er wich
zurück, drehte sich um und rannte den Weg zurück, nahm sein Rad und fuhr in
Panik davon. Sein Herz raste und er spürte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg.
Die
Zeit, bis Georgios wiederkam erschien Tsakiris wie eine Ewigkeit. Sein Herz
raste und Schweiß stand ihm auf der Stirne. Er hatte die Gefahr des
Augenblickes vorhin körperlich gespürt und war in Panik geraten. Er wusste auch
nicht, ob dieser Mann mit der hasserfüllten Stimme noch da war, oder nicht. Er
war starr vor Angst und wagte es nicht, den Rollstuhl zu wenden. Sich
umzudrehen, fand er aufgrund des Abgrundes vor ihm zu gefährlich. Also blieb er
steif und regungslos sitzen und hoffte, dass Georgios jeden Moment zurückkommen
würde. Sein Atem ging stoßweise und pfeifend.
Endlich
kam Georgios und merkte die Veränderung sofort.
„Was
ist denn geschehen, wieso sind Sie so außer sich?“, fragte er besorgt.
„Nein,
nein! Es ist nichts, ich hatte nur plötzlich Angst vor dem Abgrund vor mir. Fahre
mich wieder zurück!“, er machte eine herrische Bewegung nach vor. Georgios hatte es schon längst aufgegeben, von
seinem Herrn als etwas anderes als ein Dienstbote wahrgenommen zu werden. Das
Wort „Bitte“ kam selten über dessen Lippen, oder gar eine private Bemerkung.
Niemals wurde er nach seinen Wünschen oder Bedürfnissen gefragte, er hatte eben
einfach da zu sein, wenn nach ihm verlangt wurde; Tag und Nacht! Dafür wurde er
aber auch überdurchschnittlich gut bezahlt und er hatte sich bewusst damit
abgefunden.
So
betrachtet war auch er nur eine Figur in diesem Spiel über Macht, Geld und
Gier.