Karneval in Venedig
JOANA ANGELIDES
Es ist noch früh am
Morgen, die Morgendämmerung beginnt sich aufzulösen und der Himmel hat eine
zart rosarote Färbung angenommen, die nach oben hin verblasst.
Ihre kleine
Mansarde liegt ganz oben in dem Miethaus und erlaubt einen weiten Blick über
die Dächer von Wien. Ganz weit weg sieht
man den Donauturm wie eine spitze Nadel in den Himmel ragen, die neue UNO-City
zeichnet sich als ein dunkler Block gegen den Himmel ab und der Mileniumstower
mit seinem Licht ganz oben, blinkt herüber. Auf der anderen Seite sieht man den
Stephansdom als dunklen Schatten gegen das Licht. Man sieht auch schon
vereinzelt Lichter in den Häusern, der Morgen dämmert heran.
Das Pfeifen des Teekessels aus der Küche läßt sie aufschrecken. Sie eilt in die Küche und bereitet ihr Frühstück vor.
Leicht duftet der
Earl-Grey in der Kanne und die Brötchen sind knusprig. Nach dem Frühstück zieht
sie sich ihren bequemen Hausanzug an und schlendert wieder in den kleinen Wohnraum
ihrer Mansardenwohnung hinüber.
Besonders schön sind die Parks rund um die Innenstadt, der Stadtpark, der Burggarten und auch der Rathauspark. Die Äste der Bäume dort behalten ihren kleinen Schneehäubchen, und nur wenn ein Vogel sich daraufsetzt, oder sie im Fluge streift, fallen sie lautlos zu Boden, wie reiner, weißer Staub. Ach, sie liebt diese Stadt, mit ihrem Flair, ihren Stimmungen, ihrer Schönheit zu jeder Jahreszeit und den Menschen da.
Sie geht gerne vom
Ring, der Prachtstraße Wiens, durch den Burggarten in das Zentrum, wenn es die
Zeit zuläßt. Aber meist ist es unerläßlich mit dem Auto einfach durchzufahren,
die Hektik des Tages erfordert es.
Doch heute ist eben
Sonntag und sie kann die Hektik für ein paar Stunden vergessen.
Sie holt sich den
Brief vom Schreibtisch, der nun schon zwei Tage dort liegt, über den sie sich
ungeheuer gefreut hat und macht es sich auf der breiten Sitzbank bequem.
Sie lehnt sich an ihr
übergroßes Kuschelpolster und zieht die Beine an, ihre Füße sind nackt und sie
spielt leicht mit den Zehen.
Sie liest den Brief
immer wieder. Alissa, eine Freundin aus der Studienzeit, die seit ihrem
Abschluß in Venedig lebt, hat sie für ein paar Tage eingeladen bei ihr zu wohnen,
und zwar genau in jener Woche, wo der weltberühmte Karneval in Venedig
stattfindet.
Als sie beide die
Kunstakademie in Wien besuchten, gab es viele Wochenenden, an denen sie sich
einfach in den Zug setzten und nach Venedig fuhren. Diese Stadt, Serenissima,
die Perle an der Adria, hatte es ihnen angetan. Sie standen gerne auf der
Rialtobrücke und ließen Blütenblätter ins Wasser fallen oder flirteten mit den
Gondolieri, die unter ihnen durchfuhren und manchmal schickten sie ihnen sogar
Kußhändchen, um sie aus der Fassung zu bringen.
Sie wohnten immer in einer kleinen Pension in der Calle Modena.
Die Pension war
sauber und billig, der Ausblick von den unverhältnismäßig großen Balkonen war
überwältigend. Man hatte den Blick frei bis zum Canale Grande, rechts und links
auch auf einigen Kirchen und alten Paläste. Die pastellfarbenen Fassaden der
alten Palazzi sahen bezaubernd aus, man übersah die oft abbröckelnden Ecken
über all diesem Charme, den die Stadt ausstrahlt.
Die Wirtin war eine
kleine runde Person mit freundlichem Wesen und brachte immer irgendetwas extra
für die „armen Studentinnen“ auf den Tisch.
Und nun lebt Alissa in Venedig, war dort verheiratet, arbeitet nun als freie Künstlerin und besitzt selbst eine Galerie in S.Polo, in der Nähe der Rialtobrücke, in einer schmalen Calle beim Canale Grande, nicht weit weg von ihrem damaligen Studentendomizil.
Sie freut sich aufrichtig über diese Einladung und war in Gedanken schon mehr in Venedig als sonst irgendwo.
Die Tage bis hin zur Reise nach Venedig wollen ganz und gar nicht schnell vergehen, doch heute war es so weit. Sie steht am Hauptbahnhof von Venedig, Santa Lucia, und hält Ausschau nach ihrer Freundin.
„Susanne! Hallo, herzlich Willkommen!“
Bevor sie noch
antworten kann, hat sie eine quirlige kleine Person bereits um den Hals
genommen, küßt sie wild und glücklich und hängt an ihrem Hals.
„Ich freue mich,
du! Mein Gott, gut schaust du aus!“
Susanne wehrt nun
die Freundin lachend ab.
„Du läßt mich ja
gar nicht zu Wort kommen, ich kriege keine Luft“, ruft sie lachend.
Alissa hat sich
fast gar nicht verändert, ihre schulterlangen dunklen Haare sind nach wie vor
wunderbar voll und glänzend. Sie wirkt elegant und gepflegt und ihre Kleidung
ist wie sie immer war, teuer und nach der neuesten Mode.
Susanne nimmt ihre
Reisetasche und die beiden Frauen haken sich unter und streben dem Ausgang zu.
Sie nehmen eine
Taxe und fahren so weit es eben geht in die Stadt rein und nehmen dann eines
der schwimmenden Boote am Canale Grande bis ins Zentrum.
Dort ist es nicht
weit bis zu dem kleinen Palazzo, in dem Alissa wohnt und auch ihre Galerie hat.
Die Freundinnen
haben sich eine Menge zu erzählen. Während der Fahrt sprudeln sie nur über vor
Neuigkeiten.
Nachdem Susanne das
Gästezimmer in Besitz genommen, ihre Kleider in dem entzückenden
Renaissanceschrank verstaut hatte, ruht sie sich ein wenig aus. Alissa wird die Galerie heute etwas früher
schließen und sie haben vereinbart, einen kleinen Bummel durch das abendliche
Venedig zu machen.
In zwei Tagen wird
der Karneval beginnen und sie haben beide noch immer kein Kostüm.
Trotzdem der kühle
Abend eigentlich gegen einen Spaziergang sprach, wollen sie in einen anderen
Stadtteil Venedigs gehen, in ein Geschäft mit der Bezeichnung „Maschere a
Venezia“. Dort gibt es die schönsten Kostüme und Masken der ganzen Stadt.
Sie schlendern
durch die engen Gassen, überqueren kleine Kanäle über entzückende Brücken und
konnten hin und wieder schon Menschen mit Masken vor den Gesichtern und dunklen
Umhängen sehen, die darunter verschiedene Kostüme zu verbergen suchen.
In dem gesuchten
Geschäft fühlt Susanne sich in eine andere Welt versetzt. Ein Arlecchino mit
weißer Gesichtsmaske steht regungslos gleich neben dem Eingang. Plötzlich
bewegt er sich und fragt nach ihren Wünschen. Er verweist sie in das Innere des
Geschäftes, das sich weit bis nach hinten erstreckt.
Überall starren sie
Masken an, von der Decke baumelnd, oder an den Wänden befestigt. Puppenhafte
Gesichter, phantasievolle Federngebinde, die im Luftzug leicht wippen und reich
gestaltete Kostüme aus Taft und mit Pailletten bestickten Stoffen, in vielen
Farben, mit Gold und Silber verziert. Da fällt die Wahl schwer.
Susanne entscheidet
sich für ein Kostüm der Colombina, in Gold und Rot, das viel Bewegungsfreiheit
hat.
Alissa entscheidet
sich für ein prächtiges Kostüm in tiefem Blau und einer weißeren Maske, das
einer Comtesse zu aller Ehre gereichen würde, mit aufwendigem Kopfschmuck und
vielen Perlen.
Man könnte die
Kostüme kaufen, aber auch leihen und sie entscheiden sich dazu, die Kostüme zu
leihen.
Als sie dann wieder
zu Hause sind und die Pakete abgeladen hatten, hat Susanne nur einen Wunsch,
sie will ein wenig in der Galerie stöbern, sehen welche Objekte und Bilder da
zum Verkauf angeboten werden.
Alissa geht mit ihr
hinunter und führt sie durch die Räume. Es sind große Räume im Renaissance
Stil, mit schweren Brokatvorhängen, üppig gerafft mit schönen Sesseln und Bänken,
die zum Verweilen und Betrachten der ausgestellten und beleuchteten Bilder
einladen. Der Fußboden ist in Schwarz und Weiß gehalten, im Schachmuster angelegt
und unterstreicht den klassischen Stil des Raumes.
„Ach, du! Die Räume
sind ein wunderschöner Rahmen für deine Bilder!“ Susanne ist begeistert.
„Danke, ja mir
gefällt es auch hier, ich fühle mich richtig wohl.“
„Ja aber sag, gibt
es denn da keinen Conte oder Princippe oder irgendwas Männliches in deinem
Leben? Nie hast du mir etwas geschrieben, nur einmal Geheimnisvolles
angedeutet?“ Die beiden Freundinnen sahen sich an.
„Ja doch, gab es.
Aber irgendwie ist mir alles entglitten und er verschwand in den engen Kanälen
und Gassen von Venedig.“ Sie sah traurig aus.
„Ach, schau nicht
so traurig, jetzt beginnt der Karneval und da werden wir lustig und übermütig
sein und vielleicht finden wir ihn dann, eben irgendwo in den kleinen Gassen oder
auf einer Brücke?“ Sie legt den Arm um die Freundin. Diese lächelt.
„Und, wenn wir
schon dabei sind, wo ist denn dein Traummann? Bist ja auch alleine gekommen?“
„Naja, ich glaube
mir ging es wie dir, nur daß es die engen Gassen von Wien waren, die Hektik des
Alltags und…, naja ich weiß es auch nicht!“ Sie lachen beide.
„Oh, was ist das?“
Susannes Blick bleibt im letzten Raum an einem Bild hängen, das sie sofort
fasziniert.
Es ist nicht das Kunstwerk an sich, das sie faszinierte, sondern es ist das Motiv.
Es ist der Balkon
in der alten Pension, wo sie immer gewohnt hatten, im gleißenden Sonnenlicht,
im Hintergrund die Konturen von Venedig mit ihren vielen Kirchtürmen. Am Balkon
ist ein junges Mädchen mit einem Sonnenhut zu sehen, in einem strahlend weißen
Kleid.
Es ist ein schönes Bild, im Stil von Monet, mit viel Sonne und flimmernden Licht. Es weckt Erinnerungen.
Nun ist er da, der Karneval!
Ganz Venedig ist eine Bühne. Am Marcusplatz drängen sich die schönsten Kostüme. Auf jeder Brücke in jeder kleinen Gasse Venedigs, mit Vogelmasken, mit weißen Masken, riesigen Hüten mit Federgestecken, blauen, roten und grünen Taft- und Seidengewändern, glitzernd und glänzend, mit Glöckchen und Schellen.
Prinzen und Könige in
samtenen und seidigen Wämsern, alle mit Masken. Niemand kennt den Anderen, alle
waren ausgelassen und gut gelaunt.
Auf kleinen
Plätzen, wie auf der Piazza S.Polo, sind kleine Bühnen als Straßentheater
aufgebaut, Musik aus alten Instrumenten ist zu hören. Sie spielen alte Stücke
von Goldoni, alte venezianische Possen.
Man wird umarmt, gestoßen und gezogen. Lachen dringt von allen Seiten heran, es ist ein Rausch der Farben und Sinnen. Sektgläser machen die Runde, es wird einander zugeprostet und fremde Menschen sprechen sich an, gehen dann wieder weiter.
Am Canale Grande
fahren die Wasserbusse, voll besetzt mit lachenden Menschen in Masken vorbei,
halten an den Stationen an und Massen von Menschen steigen ein und aus.
Alissa und Susanne halten sich an den Händen, um ja nicht getrennt zu werden. Sie prosten einigen Masken zu, tanzen über den Markusplatz und versuchen, sich nicht aus den Augen zu verlieren.
Ein ausgelassener Capitano reißt Alissa jedoch irgendwann von ihrer Seite und sie ist in dem Getümmel alleine. Sie ruft zwar noch einige Male nach ihr, aber es ist vergebens.
Doch da wird sie schon wieder von einer Maske herumgewirbelt, bekommt ein Glas Sekt und wird weiter gegeben an eine Maske mit Vogelgesicht, mit der sie einen Tanz lang verbunden ist.
Völlig außer Atem
lehnt sie sich dann an einen der Lichtmaste im Zentrum des Markusplatzes. Alles
dreht sich um sie, sie kann nur mehr Gestalten sehen, der Ton tritt in den
Hintergrund und sie schließt die Augen. Ihre Brust hebt und senkt sich und sie
glaubt wie ein Ballon aufzusteigen.
Sie war unglaublich
erregt und trunken vom Fest der Farben und Sinne.
Als nun auch noch
irgendwo Feuerwerk abgeschossen wird und sich der Himmel in allen Farben
darbietet, fühlt sie sich endgültig emporgehoben.
„Hallo, schöne Colombine! Tanzen wir quer über den Platz?“ Eine Stimme hinter ihr reißt sie aus diesem ekstatischen Gefühl.
Bevor sie noch
etwas sagen kann, nimmt sie ein Conte mit rotem Wams, goldenen Applikationen
und schwarzer enger Hose, einem hohen Samthut mit breiter Krempe und einer
weißen Maske, die den Mund frei lässt, in den Arm und fliegt mit ihr über den
Platz. Sein Umhang wirbelt um sie beide herum. Das heißt, soweit es möglich
ist, da der Platz ja voller Menschen ist.
Wo war nur Alissa?
Sie wird sie in diesem Getümmel sicher nicht wiederfinden.
„Sie sind die
schönste Colombine von Venedig! Drehen sie sich, springen sie, fliegen sie mit
mir!“ Ruft der Conte und lacht laut und übermütig.
Irgendwann kam er
ihr abhanden, flog davon mit einer schönen Sizilianerin mit tiefem Dekollete
Der Campanille läutet, ein neues Feuerwerk beginnt und die Sektkorken knallen. Susanne ist gefangen in einem Tornado von Geräuschen, Lichtern, und Eindrücken
Sie wird mit Blumen
beworfen, die Menschen winken ihr zu. Venedig ist wie eine sich drehende Kugel,
mit glitzernden Steinchen und Spiegeln.
Irgendwann findet sie ihre Freundin Alissa in dem Getümmel wieder.
Es waren Tage voller Lebensfreude und Erinnerungen.
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