Weihnachtsmärchen.
Das Schneegestöber ist so dicht, dass man keine
zwei Meter weit sieht. Die Geräusche werden verschluckt und die Schneeflocken
erzeugen dichte Schleier, undurchdringlich für das Auge.
Wie weit ist es wohl noch bis zum Haus der alten
Norma? Normaler Weise ist es von der Straße bis zum Haus ca. dreißig Meter,
heute scheint die Entfernung hundert Meter zu betragen. Der Doktor hat den
Wagen am anderen Ende der Brücke des kleinen Flüsschens am Straßenrand stehen
lassen und kämpfte sich über die Brücke und die wenigen Meter zum Haus von
Norma vor. Er kneift die Augen zusammen und zieht den Kragen seines Mantels
höher hinauf. Ist dort nicht ein Licht?
Er geht darauf zu, es löst sich vor ihm wieder auf,
nun ist es mehr rechts, scheint dunkler zu werden, flackert. Irgendwoher hört
man Tuten von Schiffen. Das ist unerklärlich, hier gibt es keine Schiffe.
Er geht weiter, ins Ungewisse hinein, mit
vorgestrecktem rechten Arm, die Arzttasche in der linken Hand fest umklammert.
Aus der Schneewand taucht eine Hand auf, die sich
ihm entgegenstreckt. Erleichtert greift er danach. Seine Hand wird ergriffen,
fest und hart. Nur mit Mühe kann er eine Gestalt vor sich sehen, die Umrisse
verschwommen, in dieser undurchsichtigen weißen Wand erscheint diese Gestalt
groß und bullig, mit breitem Rücken. Er hat Mühe ihr zu folgen, stolpert mehr
als er geht. Rund um ihn herum sind die Geräusche von gluckerndem Moor, gestört
auffliegenden Vögeln, knackenden Ästen und heiseren Schreien von Käuzen zu
hören. Ist da nicht das Anschlagen von Wellen an einer Uferbefestigung zu
hören? Schleier von herabhängenden
Schlingpflanzen schlagen ihm ins Gesicht. Seine Gedanken, Gefühle überschlagen
sich. Diese Geräusche erscheinen ihm völlig fremd. Langsam fühlt er Kälte in
sich aufsteigen, sich bis in die Fingerspitzen verbreitend und sein Herz wird
durch einen kalten Ring fest umschlossen. Es ist das Gefühl der Angst.
Instinktiv will er sich aus dem Griff dieser ihn
hinter sich herziehenden Gestalt befreien, kann es jedoch nicht. Der Griff ist
hart und fest, unlösbar mit ihm verbunden.
Das Schneegestöber macht es unmöglich weiter als
drei Meter zu sehen, es lösen sich Schatten auf und verschwinden. Stimmen sind
zu hören, entfernt, dann wieder nah. Es ist unverständlich, hier kann es
überhaupt keine anderen Menschen geben. Das Haus der alten Norma steht am Rande
des Dorfes, umgeben von Wald, am Ufer dieses kleinen Flüsschens. Sie lebt völlig alleine und zurückgezogen.
Nur ein Haus steht noch etwas abseits, ebenfalls am Rande des Waldes. Es ist
ein ehemaliges Köhlerhaus, in dem hin und wieder jemand wohnt. Es ist ein alter
groß gewachsener Mann, der sich ein wenig um Norma kümmert. Ihr das Holz für
den Herd hackt und Reparaturen am Haus durchführt, außer dem Doktor kennt ihn
niemand näher. Er kommt nur selten ins Dorf und wenn, dann nur zum Einkaufen.
Der heutige Besuch ist der wöchentliche
Routinebesuch als Normas Hausarzt, es fehlen noch zwei Tage zu Heilig Abend.
Nun stand er vor einem schmalen Steg, schmal und
schwankend. Er wird von dieser dunklen Gestalt erbarmungslos mitgezogen, es
gluckert unter ihm. Das Wasser schlägt an die Planken des spärlich beleuchteten
Schiffes vor ihm. Eine Laterne schwankt hin und her. Hier auf dem Wasser ist
die Schneewand nicht so dicht. Sie sind nun am Ende des Steges angekommen und
stolpern auf ein Schiff. Der Doktor wird nun in eine Luke gedrängt, die Treppe
hinuntergestoßen und steht in einer Kajüte.
Die Luft ist muffig und abgestanden, alles ist
primitiv und ärmlich. Auf einem Bett liegt eine Frauengestalt und windet sich.
Sie stöhnt und ist schweißgebadet. Das Haar klebt ihr im Gesicht, verhüllt es
fast vollständig. Ein ovales Medaillon hängt an einer dünnen goldenen Kette an
ihrem Hals.
Er dreht sich um und kann zum ersten Mal diese
unheimliche Gestalt, die ihn hergebracht hat, im Licht sehen. Der Mann starrt
ihn an, seine Augen sind rot unterlaufen, eine Narbe verläuft quer über sein
Gesicht. Eine Seemannskappe verdeckt wirres, schwarzes Haar. Ein heiserer Ton
kommt aus seiner Kehle und er deutet herrisch auf das Bett.
Die Frau liegt unübersehbar in den Wehen. Der
Doktor packt sofort seine Tasche aus, schlüpfe aus seinem Mantel und seiner
Jacke und herrscht den Mann an, ihm heißes Wasser zu besorgen. Dieser schaut
wirr um sich. Naja, heißes Wasser ist zwar da, aber viel zu wenig. Der
Doktor beugt sich nun über die Frau. Es
war höchste Zeit, hier einzugreifen.
Dann wurde ein Menschenleben geboren, ein kleines
Mädchen, unter den ungünstigsten Bedingungen. Trotz verzweifelter Anstrengung
kann er das Leben der Mutter jedoch nicht retten.
Das Weinen des Kindes ist so schwach, dass man es
kaum hören kann. Der fremde, bullige Mann wickelt es in das Leintuch ein und
drückt es an sich. Ein unmenschlicher Laut kommt aus seinem Munde.
Das Schiff schwankt plötzlich, der Boden schien
nachzugeben, der Doktor muss sich anhalten und verliert das Gleichgewicht, er
stürzt hin.
„Ja, um Gottes Willen, Herr Doktor!“ Die Stimme
kommt ihm bekannt vor. Es war der Nachbar der alten Norma.
„Ja, was ist passiert?“ Er konnte noch immer fast
Nichts sehen.
„Sie sind gestürzt, ich war gerade auf dem Weg zur
alten Norma um nach der Heizung zu sehen und da lagen sie. Sie sind ja ganz
durchnässt und haben auch noch den Mantel ausgezogen!“
„Was ist mit dem Baby?“
„Welches Baby? Hier ist kein Baby, Herr Doktor.
Kommen sie, wir gehen zusammen. Bei diesem Wetter sieht man ja gar nichts.“
Er hat eine Laterne bei sich und nimmt den Doktor
mit einem festen Griff bei der Hand und zieht ihn hinter sich her. Er hat einen
breiten kräftigen Rücken und geht unbeirrbar in die Richtung des Hauses.
Sie werden von Norma bereits erwartet. Sie ist
schon sehr alt und gebrechlich, der Besuch des Arztes freute sie immer sehr. Es
ist die einzige Abwechslung für sie. Sie hat keine Familie, ihre Tochter war
vor vielen Jahren weggegangen und in der Ferne gestorben, dann auch ihr Mann.
Sie hat von ihrer Tochter nie mehr etwas gehört.
Doch heute
scheint sie irgendwie fröhlich, ja sogar glücklich zu sein.
Sie sitzt in ihrem Lehnstuhl schwenkt ein Blatt
Papier in ihrer Hand.
„Ich habe eine Enkelin, ich habe eine Enkelin!“,
rief sie und Tränen rinnen ihr über das Gesicht.
Und dann erzählt sie. Sie bekam diesen Brief vor
zwei Tagen. Er ist von ihrer Enkelin, von der sie davor nie etwas gehört hatte.
Diese Enkelin hat sie viele Jahre gesucht und nun endlich gefunden.
„Sie schreibt, sie ist in einer Nebelnacht, kurz
vor Weihnachten auf einem Fluss Schiff geboren worden, ihre Mutter, meine
Tochter, verstarb bei der Geburt. Sie wurde vom Kapitän des Schiffes
großgezogen. Ach, ein Weihnachtswunder!“
Sie drückt den Brief an ihre Lippen und Tränen rinnen ihr über die
welken Wangen. Dem Brief beigelegt ist ein kleines ovales Medaillon, mit einem
vergilbten Bild darin. Es ist ein Bild von Norma und ihrem Mann und gehörte
ihrer Tochter.
Er muss sich setzen, Gedanken schwirren in seinem
Kopf herum. Wie war das möglich? Hat hier und heute Nacht eine Zeitverschiebung
stattgefunden?
Er wird dieses Geheimnis nie lösen.
Norma hat den Tisch gedeckt, in der Mitte steht ein
Adventskranz, alle vier Kerzen brennen und ein kleiner Teller mit Keksen stand
daneben. Für sie hat Weihnachten schon begonnen.
Sie blickte in die Flammen und beginnt ein altes
Weihnachtslied zu summen und schaukelt in ihrem Stuhl langsam hin und her. Im
Kamin knisterte das Feuer und verbreitete angenehme Wärme.
Er trinkt von dem duftenden Tee aus dem Kessel und
nimmt schweigend ein paar Kekse.
Der Doktor verzichtet heute auf eine Untersuchung,
nimmt seinen Mantel und geht gemeinsam mit dem alten Mann hinaus.
Dieser leuchtet ihm den Weg aus und begleitet ihm
bis zur Brücke.
„Ein frohes Weihnachtsfest, Herr Doktor!“ Dann dreht er sich um und verschwindet in der
Dunkelheit.
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