Der Baum
von Joana Angelides
Lange Zeit
lag das Grundstück ungenutzt am Strand und verwilderte. Die Sträucher wurden
immer dichter, Gras und Unkraut bedeckte den Boden.
Ein wahres
Paradies für die Ferienkinder. Sie bauten sich Unterschlüpfe, sie fütterten die
Vögel und erzählten sich dicht aneinandergedrängt, ihre Geschichten und
Erlebnisse.
Das
Grundstück lag direkt am Meer, nur eine kleine Straße trennte es vom Strand,
der wunderbar weich und sauber war. Außerdem spendete ein alter Baum am gegenüberliegenden
Straßenrand, Schatten. Dort suchten die Kinder nach dem Schwimmen Schutz vor
der Sonne.
Wie ein
Lauffeuer ging die Nachricht von den Baumaschinen im Ort herum und die Kinder
liefen erschrocken hin, um nach ihrem Refugium zu sehen.
Fassungslos
sahen sie zu, wie die Maschinen erbarmungslos in ihr Paradies eingedrungen
waren, die Sträucher ausrissen und die Erde mit großen Schaufeln ausbaggerten.
Sie setzten
sich stumm unter den großen Baum gegenüber dem Geschehen und konnten es gar
nicht glauben.
Der Schock
saß tief, umso mehr als es so überraschend geschah. Nichts hatte auf diese
Katastrophe hingedeutet.
Der Sommer
ging vorüber und die Kinder verschmerzten den Verlust, sie hatten ja noch IHREN
Baum. Sie saßen mit dem Rücken zur Baustelle und versuchten sie zu ignorieren.
Das Haus
wuchs und als die Ferien vorüber waren, stand der Rohbau und glotzte sie aus
leeren Fensterhöhlen böse an, so zumindest empfanden sie es.
Als sie im
nächsten Sommer wiederkamen, war das Haus fertig und auch bewohnt. Es war einstöckig
und hatte einen Mansardenaufbau. Über die Vorderfront zog sich ein breiter
Balkon, auf den zwei Türen und ein Fenster mündete. Er war begrenzt durch eine
schwarze Balkonbrüstung, die aussah wie ein Spinnennetz.
Die Kinder
trafen sich am Anfang der Straße und gingen geschlossen zum Strand und setzten
sich wieder unter IHREN Baum. Sie taten, als interessiere sie das Haus nicht im
Geringsten.
Sie hatten
sich viel zu erzählen, schließlich waren inzwischen einige Monate vergangen.
Sie lachten
und schrieen durcheinander, liefen zum Meer und ließen den aufgestauten
Energien der letzten Monate freien Lauf.
Es vergingen
einige Tage und als sie wieder einmal zum Baum zurückkamen, stand ein älterer
Mann in einer Art Uniform da und schaute sie streng an.
„Mein Name
ist Georgios, ich bin Angestellter in diesem Hause. Und mein Herr fühlt sich
durch den Lärm, den ihr hier veranstaltet, gestört. Könnt ihr nicht weiter die
Straße rauf oder runtergehen und dort spielen?“
Die Kinder
starrten ihn an.
Was erlaubte
er sich? Es war schließlich IHR Baum und sie waren früher da. Sie schüttelten
stumm den Kopf und sechs Augenpaare richteten sich gleichzeitig und das erste Mal
offen und sehr zornig, auf das Haus.
Ein alter
Mann saß in seinem Rollstuhl am Balkon im ersten Stock mit einer Decke auf den
Knien und starrte scheinbar unbeteiligt zu ihnen herüber. Er wirkte unheimlich
und abweisend, was wahrscheinlich durch die überdimensionierte Sonnenbrille
noch verstärkt wurde.
Jeder
einzelne der sechs Kinder hatte den Eindruck, dass er genau ihn ansah. Die
Stille war greifbar.
Wie auf
Befehl drehten sich die Kinder plötzlich um und liefen ins Meer. Sie ließen den
Bediensteten einfach stehen und kümmerten sich nicht um ihn. Als sie
herauskamen war er verschwunden, nur der alte Mann saß noch immer am Balkon und
schien zu ihnen herüberzustarren.
Sie rafften
ihre Kleidungsstücke zusammen und gingen nach Hause.
Das Wetter
der nächsten Tage erlaubte es nicht, dass die Kinder ins Meer baden gehen
konnten.
Nach einigen
Tagen stürmten sie jedoch wieder die Straße hinunter, um unvermittelt stehen zu
bleiben.
Wo war IHR
Baum?
Wo der Baum
stand, gab es nur mehr einen Baumstumpf und rund herum lagen die abgeschnittene
Zweige und der in einige Teile zersägte Baumstamm, mit ihren eingeritzten
Initialen.
Sie kamen nun
langsam näher und starrten darauf. Dann blieben sie stumm stehen und machten
den Eindruck einer Trauergemeinde am offenen Grab.
Einer der
Kinder hob einen Zweig auf und hielt ihn in der Hand, die anderen machten es ihm
nach. So standen sie eine Weile stumm da; der Kleinste ließ ein Schluchzen
hören, das dann in lautes Weinen überging, als ihn der Älteste an der Schulter
nahm und an sich drückte.
Plötzlich erfasste
sie unbändige Wut. Der Baum war ihnen Schutz, Zuflucht und Freund gleichzeitig
gewesen. Ein einzelner Mann, dem Kinderlachen und ein wenig Lärm störte, hat
ihn einfach entfernt, getötet!
Sie drehten
sich um und blickten in die Richtung des Hauses gegenüber. Der alte Mann saß am
Balkon und starrte wieder zu ihnen herüber. Sie starrten zurück und hoben alle
gleichzeitig jene Hand, die jeweils den Zweig hielt. Es war wie eine Drohung,
wie ein Schwur.
Plötzlich
bewegte der alte Mann seinen Rollstuhl und verschwand im Dunkel des Raumes
hinter ihm.
Die Kinder
blieben noch eine Weile in ihrer Stellung und starrten Hass erfüllt hinüber,
dann gingen sie mit hängenden Köpfen, jeder einen Zweig in der Hand, nach
Hause.
Doch sie
kamen nun jeden Tag wieder. Am Anfang der Straße sangen sie laut irgendwelche
Kinderlieder. Wenn sie das Haus erreichten, verstummten sie und stellten sich
schweigend gegenüber dem Haus auf. Jeder hielt seinen Zweig anklagend in die
Höhe, so blieben sie eine Minute lang stehen. Der alte Mann ließ sich nicht
blicken, doch man konnte sehen, wie sich die Vorhänge hinter dem Fenster
bewegten. Nach dieser Minute gingen sie wieder und begannen sofort nach
Erreichen des Nachbargrundstückes wieder zu singen.
Am anderen
Ende des Dorfes hatten sie wieder einen Platz gefunden, wo das Meer ebenso
schön war, der Strand ebenso weich und sauber. Es waren auch einige kleine
Bäume da, die ein wenig Schatten spendeten, doch IHR Baum, mit der mächtigen
Krone und den weit ausladenden Ästen fehlte ihnen sehr.
Die
mitgenommenen Zweige hatten längst ihre Blätter verloren und waren trocken und
spröde, doch sie hüteten sie wie einen Schatz. Jeden Tag gingen sie zu dem
neuen Haus und hielten sie anklagend in die Höhe. Erst dann liefen sie zu ihrem
neuen Spielplatze.
Es ging ein
Raunen durch das Dorf, als bekannt wurde, dass der alte Mann, der das neue Haus
bewohnte, plötzlich gestorben war.
Die Kinder
trafen sich am Hauptplatz vor der Kirche und der Älteste las laut und ohne
besondere Betonung die Todesanzeige vor. Danach gingen die Kinder zum
Abfallcontainer und warfen die trockenen und spröden Äste hinein.
Der Tod des
alten Mannes ging ihnen scheinbar nicht sehr nahe, sie kannten ihn ja kaum.
Es gibt zahlreiche
Kurzgeschichten, Erotik-e-Books, einige Romane und Gedichte von mir! Fast alles
in e-Books zusammengefasst! Download von amazon, Thalia Libri und allen
Großhändlern!Großes Lesevergnügen um wenig Geld!
Auch über https://www.bookrix.de/-joanavienna/
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen