Der Bergkristall
von Joana Angelides
„Heute
gehen wir hinauf auf den Berg. Onkel Eduard wird auch mitkommen und Snief, sein
Hund“, sagte Tante Monika und räumte gemeinsam mit Lisa den Frühstückstisch ab.
„Wow,
so eine richtige Bergtour, mit Seilen und Haken und so?“, fragte Klaus.
„Nein,
natürlich nicht", lachte Tante Monika. „Ihr seid doch keine Bergsteiger,
und ich und Onkel Eduard sind viel zu alt für so eine Bergtour. Nein, es fährt
ja die Seilbahn hinauf. Das ist leichter. Außerdem würde meine Schwester, eure
Mutter, mit mir sehr böse sein, wenn ich euch solchen Gefahren aussetze“.
Das
sahen Lisa und Klaus ein.
„Und
was sollen wir anziehen, was sollen wir mitnehmen für diesen Ausflug?“
„Auf
jeden Fall eure festen Schuhe, dann jeder ein Jacke und einen Regenschutz,
falls es regnen sollte. Proviant nehme ich in meinem Korb mit“.
Lisa
war schon sehr neugierig, was Tante Monika wohl heute alles in ihrem Korb
transportieren wird. Denn dieser Korb war eigentlich gar nicht so groß um alle
die Dinge, die dann immer zum Vorschein kamen, auch wirklich zu fassen.
Tante
Monika packte also Brot, Wurst, ein Stück Speck, ein paar Äpfel, einen Kuchen,
Plastik-Teller, Plastik-Besteck, Servietten und eine Flasche Tee in den Korb
und machte ihn oben zu.
„Da,
nimm den Korb und trage ihn zum Auto“,
sagte sie zu Klaus. Dieser nahm den Korb und wider erwarten, war er gar
nicht so schwer, wie er eigentlich sein sollte, mit all diesen Dingen darin.
Sie
liefen dann beide in ihr Zimmer, um die Kleidungsstücke, die Tante Monika
erwähnt hatte, zu holen und liefen zum Auto. Sie fuhren wieder den Bach entlang
bis zum Häuschen von Onkel Eduard.
Heute
erwartete sie dieser bereits vor dem Haus, gemeinsam mit Snief. Als Snief das
Auto kommen sah, zog er schon ungeduldig an der Leine. Onkel Eduard bugsierte
ihn in das Auto und stieg dann selbst ein und los ging die Fahrt.
Sie
führen an der kleinen Stadt vorbei, umrundeten den Hügel und fuhren dann in
gerader Linie zum Berg, zur Bergstation.
Dort
parkten sie das Auto und gingen die paar Meter bis zur Seilbahn zu Fuß weiter.
Nachdem sie Tickets gelöst hatten, betraten sie zusammen mit einigen anderen
Leuten die Kabine der Seilbahn.
Klaus
und Lisa stellten sich sofort ans Fenster ganz vorne um einen guten Blick
hinaus und hinunter zu haben. Hinter ihnen standen Tante Monika und Onkel
Eduard, der Snief am Arm trug. Er hatte Angst, die Menschen in der Kabine
würden auf den kleinen Hund drauf treten.
Da setzte sich die Kabine auch schon in Bewegung. Es war aufregend. Sie
fuhren aus der Bergstation hinaus und schwebten in die Höhe. Je länger sie
fuhren, desto größer wurde der Abstand zwischen ihnen und dem darunter
liegenden Abhang.
„Oh,
wie schön!“, rief Lisa aus, als sie die Landschaft so unter sich ausgebreitete
sah. Das kleine Tal und der Bach der sich dahinschlängelte und rechts von ihnen
die kleine Stadt mit ihrem Kirchturm und den immer kleiner werdenden Häusern.
Mit
einem sanften Ruck blieb die Gondel in der oberen Bergstation stehen, der
Liftwart öffnete die Türe und ließ jeden Fahrgast einzeln aussteigen.
Die
kleine Gruppe mit Tante Monika, Onkel Eduard, den Kindern und dem Hund wandte
sich einem kleinen Pfad zu, der sich aufwärts strebend dem Berg zuwandte.
„Bleibt
schön hinter mir und achtet auf den Weg", sagte Onkel Eduard, der die
Führung übernommen hatte. Sie gingen hintereinander den Weg hinauf und kamen auf eine kleine ebene Fläche. Es lagen
große Steine herum, dazwischen schauten Alpenblumen und grünes Gras hervor.
Manches Mal gab es auch kleine Büsche, auf den kleine Vögel saßen und
trällerten.
„Schaut“, sagte Tante Monika und deutete mit ihrem
Schirm rechts von ihr, “hier sind Murmeltiere“.
Und
wirklich schauten zwischen den Felsbrocken diese niedlichen Tiere hervor und
beäugten neugierig die Besucher.
„Oh,
ja!“, rief Klaus und klatschte in die Hände.
Die
Murmeltiere erschraken und waren sofort wieder in ihren Höhlen verschwunden.
„Ach
Klaus, du hast sie verschreckt“. Tante Monika schüttelte missbilligend den
Kopf.
„Hallo,
ihr, kommt wieder raus, wir tun euch nichts!“, rief sie laut und setzte sich
auf einen Stein.
Lisa
und Klaus hielten den Atem an, Ob sie wiederkommen werden?
Tante
Monika stellte den Korb auf die Erde und öffnete ihn. Gemeinsam mit Lisa
breitete sie die Decke auf und stellte alle die guten Dinge darauf, die sie von
zu Hause mitgenommen hatten. Sie hatten gar nicht bemerkt, dass sie schon so
hungrig waren!
Auch
Snief bekam ein großes Stück Wurst, das er ganz schnell verzehrte.
Die
Vögel sammelten eifrig die Brotkrümel
auf, die ihnen die Kinder zuwarfen
Als
sie fertig waren und alles wieder eingepackt war, sahen sie ein kleines
Murmeltier hinter dem Stein hervor schauen. Als es aber merkte, dass Klaus sich
ihm nähern wollte, verschwand es wieder ganz schnell.
Sie
warteten eine Weile, die Kinder trauten sich kaum zu atmen. Da, hinter dem
großen Stein lugte schon wieder eines der Murmeltiere hervor.
„Wie
geht es euch denn, Bastian?“, fragte Tante Monika, “ist Baba Dorn schon wieder
gesund?“
Bastian,
das größte der Murmeltiere, welches sich hinter dem großen Stein versteckt
hatte, kam hervor.
„Ja,
danke, deine Medizin hat ihm sehr geholfen, er ist wieder gesund und ist schon
wieder grantig“, lachte Bastian.
Tante
Monika lachte auch. Sie hatte ihm eine Hustenmedizin gebracht, als sie das
letzte Mal hier auf dem Berg war.
„Aber
wir haben trotzdem große Sorgen!“
Das
Murmeltier wiegte den Kopf hin und her und schaute sehr besorgt drein.
„Der
große Zauberer Paron hat gemeinsam mit dem schwarzen Raben der Hexe Bora den
Bergkristall des Bergkönigs gestohlen und versteckt. Wenn wir ihn nicht wieder finden, dann wird die Quelle
kein Wasser mehr geben, alle Blumen und
Sträucher und auch die Tiere werden sterben. Der Wasserfall wird versiegen und
der Eingang zum Märchenwald wird nicht mehr versteckt sein. Ach!“
Bastian seufzte tief und zwei kleine Tränen kullerten
über seine Wangen.
„Oh,
das ist ja schrecklich", sagte Tante Monika. „und wie können wir da
helfen?“
„Es
muss jemand da die Wand hinaufklettern und über den Felsengrat gehen, dort in
einer Höhle ist der Bergkristall versteckt. Aber der Rabe bewacht ihn!“
Tante
Monika öffnete ihren Korb und entnahm ihm ein dickes Seil.
„Eduard,
du wirst das machen!“
Eduard
schaute zwar ein bisschen verwundert und rückte seine Brille zurecht, aber den
energischen Worten von Tante Monika konnte er nicht widersprechen.
Er
nahm das Seil über seine Schulter und begann den Felsen hinaufzuklettern.
Tante
Monika und die Kinder schauten ihm neugierig zu. Hinter ihnen kamen alle
Murmeltiere aus ihren Höhlen und man konnte ihre ängstlichen Pfiffe hören. Die
Vögel in den Zweigen der Büsche gaben keinen Laut von sich. Der Salamander
blieb regungslos auf seinem Stein in der Sonne liegen. Alles schien den Atem
anzuhalten.
Onkel
Eduard kletterte höher und höher. Manchmal fielen kleine Steinchen herab, da
sprangen sie alle auf die Seite.
Nun
war Onkel Eduard endlich oben angekommen und da er sehr müde war von der Kletterei, setzte er sich
einmal hin und schaute hinab. Sie winkten ihm und er winkte zurück.
„Du
musst über den Felsengrat gehen, dort ist die Höhle!“, rief Tante Monika
hinauf, nachdem ihr das große Murmeltier Bastian etwas zugeflüstert hatte.
Ein
Raunen ging durch die Gruppe der Tiere.
Alle
schauten hinauf, wird er das schaffen?
Auch
Snief war ganz aufgeregt, er lief laut bellend hin und her.
Onkel
Eduard stand nun wieder auf und blickte über den Grat auf die andere Seite. Er
kratzte sich am Hinterkopf und dann band er das Seil, das ihm Tante Monika
mitgegeben hatte um den großen Stein herum, auf dem er gesessen hatte machte am
Ende des Seiles eine große Schlinge und warf das andere Ende über den Grat
hinüber. Er musste es ein paar Mal probieren, bis die Schlinge endlich um einen
großen, spitzen Stein auf der anderen Seite fiel und er das Seil festziehen
konnte.
Nun
zog er am Seil um auszuprobieren, ob es auch hält und nickte. Er warf einen
letzten Blick hinunter zu den Kindern, Tante Monika und den Tieren, rückte
seinen Hut zurecht und begann mit vorsichtigen Schritten den Grat zu betreten.
„Krächz,
Krächz!“
Ein
großer dunkler Schatten fiel auf Onkel Eduard und der schwarze Rabe der Hexe
Bora versuchte ihn vom Grat zu stoßen, indem er immer wieder auf ihn zuflog.
Mit einer Hand wehrte Onkel Eduard den Vogel ab, mit der anderen Hand hielt er
sich am Seil fest. Einmal wäre er fast abgerutscht und konnte sich erst im
letzten Augenblick wieder fangen.
Ein
Aufschrei der unten Gebliebenen war zu hören.
Immer
wieder versuchte der große schwarze Rabe Onkel Eduard aus dem Gleichgewicht zu
bringen.
Unten
am Fuße des Felsen waren alle Tiere versammelt und stießen ängstliche Laute
aus. Lisa und Klaus hielten sich die
Hand vor den Mund und konnten keinen Laut von sich geben.
Tante
Monika fuchtelte mit ihrem Schirm herum, der natürlich nicht bis zu dem Raben hinauf reichte.
Snief
wedelte ganz aufgeregt mit dem Schwanz und bellte wütend.
„Tut
doch was", rief Bastian das
Murmeltier, ganz verzweifelt.
Da
flogen plötzlich alle Vögel des Waldes und ein ganzer Bienenschwarm einige
Wespen und Hummeln in die Höhe, in Richtung
des schwarzen Raben und griffen gemeinsam an. Diesem Angriff konnte der Rabe
allerdings nicht widerstehen, er musste richtig die Flucht ergreifen, denn die
Vögel griffen immer wieder an und die Bienen summten sehr bedrohlich und einige
Wespen hatten ihn schon gestochen. Sie trieben ihn von der
Höhle weg, wo sich der Bergkristall befand und er flog immer höher hinauf, in
der Hoffnung, sie würden ihn dann nicht erreichen können. Doch sie trieben ihn
immer höher und höher. Weit weg von Onkel Eduard.
Dieser
hatte inzwischen die andere Seite erreicht und schaute sich nun um, um die
Höhle zu finden.
„Ich
habe sie gefunden", rief er voller Freude aus.
„Gehe
hinein, ganz nach rückwärts, dort muss der Bergkristall liegen!“, rief Tante
Monika hinauf und Bastian das Murmeltier nickte ganz eifrig.
Er
ging in die Höhle hinein, seine Augen mussten sich aber erst an die Dunkelheit
gewöhnen, er blinzelte ein wenig.
Doch
dann konnte er schon Umrisse sehen. Es war eine tiefe Höhle mit vielen
herabhängenden Felsenstücken und großen Steinen am Boden.
Doch
da, woher kam wohl das Licht? Es war ein schwacher Schein, der, je näher er kam
immer heller wurde.
Ganz
hinten, auf einem Felsenvorsprung lag er. Der Bergkristall! Er erstrahlte im
hellen, bläulichen Licht, es funkelte und glitzerte. Onkel Eduard musste beim
näher kommen die Augen schließen. Er griff ganz langsam und furchtsam nach ihm.
Er fühlte sich kühl an, durch seinen Körper strömte ein wunderbares Gefühl und
er glaubte leise Musik zu hören.
Er
blieb regungslos stehen.
Doch
dann fiel ihm ein, dass er sich ja beeilen musste, die Vögel und Bienen konnten
den Raben ja nicht ewig fernhalten. Er steckte den Bergkristall in die Tasche
seiner Jacke und lief wieder zu Ausgang zurück.
Mit
großen Schritten lief er zum Felsengrat hin und überquerte ihn mit Hilfe des
Seiles. Die Vögel und Bienen waren noch immer hinter dem Raben her, der laut
krächzend über dem Berg kreiste.
Onkel
Eduard hatte keine Zeit, das Seil von Tante Monika wieder zu lösen, er ließ es
dort und kletterte schnell den Felsen hinab.
Unten
angekommen schauten ihn alle erwartungsvoll an. Hatte er nun den Bergkristall
gefunden?
„Also!“
sagte Tante Monika und hielt ihm die Hand entgegen, „wo ist er?“
„Hier“.
Er nahm den Bergkristall aus der Jackentasche und gab ihn Tante Monika.
Sie
hielt den Kristall in die Höhe, damit ihn alle sehen konnten und es ging ein
Raunen durch die Gruppe der Tiere. Das Leuchten war von allen zu sehen.
Bastian
das Murmeltier, kam langsam näher und nahm mit seinen beiden Händen den
Kristall entgegen und verschwand, so schnell und geräuschlos, wie er erschienen
war.
Die
Vögel sind inzwischen auch wieder zurückgekommen und der Bienenschwarm flog
wieder Richtung Wald davon.
Über
ihnen kreiste der schwarze Rabe und krächzte wütend und seine Flügelschläge
waren sehr zornig und wild.
Alle
umringten Onkel Eduard und flüsterten und lachten und schauten ihn so
bewundernd an, dass er ganz rot wurde. Snief bellte vor lauter Vergnügen.
Die
Vögel flogen um ihn herum, umkreisten ihn und wackelten mit den Flügeln, die
Murmeltiere hatten sich an den Händen genommen und tanzten miteinander und
selbst der Salamander wackelte mit seinem Schwänzchen hin und her.
„So,
na dann werden wir unseren Ausflug wieder beenden, und nach Hause fahren“.
Sagte Tante Monika.
Doch
in diesem Moment hörten sie eine tiefe Stimme durch den Wald schallen.
„Ich
bin der Bergkönig! Ich danke den Menschen für ihre Hilfe. Ohne den Bergkristall
wäre alles Wasser versiegt, die Tiere und der ganze Wald wären verdurstet. Ich
werde immer für euch da sein, werde euch am Berg beschützen und ihr seid mir
immer willkommen!“
„Da,
schaut!“ Rief Lisa und deutete auf den Berg hinauf. Den Berg fast völlig verdeckend, in einem weiten Mantel und einer
Krone auf dem Kopf erschien der Bergkönig, sein weißer Bart reichte ihm bis zum
Gürtel und er schien über ihnen zu
schweben. In der Hand hielt der Bergkönig den Bergkristall, der leuchtete und
funkelte. Nur ganz langsam verschwand diese wunderbare Erscheinung wieder und der Berg wurde in ein leuchtendes
Rot getaucht, es war der Sonnenuntergang.
„So,
na dann werden wir unseren Ausflug wieder beenden, und nach Hause fahren“.
Sagte Tante Monika und nahm ihren Korb auf den Arm. Und zu Onkel Eduard gewandt
sagte sie: “Das Seil hast du am Berg gelassen, wir müssen ein neues kaufen“.
Sie verabschiedeten sich von den Murmeltieren und
all den Anderen und machten sich auf den Weg zur Bergstation.
Klaus
und Lisa waren noch immer ganz benommen vom Anblick des Bergkönigs. Während der
Abfahrt konnten beide kein Wort sprechen, hingen ihren Gedanken nach und ihre
Blicke waren noch immer auf den Berg gerichtet und sie bewunderten den langsam
sich auflösenden Sonnenuntergang, der rosa Lichter auf dem Berg tanzen ließ.
Onkel
Eduard war an die Wand der Gondel gelehnt und hielt Snief fest im Arm, der vor
lauter Freude, sein Herrchen wieder zu haben, ihn unentwegt mit der Schnauze
berührte.
Tante
Monika lehnte neben Onkel Eduard und sah ungeheuer zufrieden aus.
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