Montag, 4. November 2019

Das Gemälde, Fantasie


Das Gemälde
 von Joana Angelides



Wir können oft nicht artikulieren, warum uns ein Bild anspricht, warum wir manchmal den Wunsch haben, es einfach zu betreten, in die Tiefe dieses Bildes zu tauchen und uns in dem kühlen Schatten einer der Bäume auszuruhen.

Ich kannte ein solches Bild und die Faszination, die es auf mich ausübte, wurde von Tag zu Tag größer.
Es hing in einem großen Saal des Museums und ich verbrachte viele Stunden davor, um es zu betrachten.

Mein „Lieblingsbild“ stellte eine Sommerlandschaft dar, im Hintergrund, in der Tiefe des Bildes, konnte man eine Ansammlung von Häusern ahnen, Hügel und Ebenen wechselten ab und im Vordergrund war ein See mit Seerosen und einer illustren Gesellschaft von jungen Menschen, die sich um einen Picknickkorb versammelt haben, zu sehen.

Die Brücke im Mittelpunkt spannte sich über den stillen, dunklen See, in dem eben einige Seerosen schwebten, die sich nur scheinbar bewegten. Wir wissen, sie können sich nur in einem begrenzten Radius bewegen, ihre Stiele werden von den Wurzeln am Grunde des Sees festgehalten, ich fühlte mit ihnen.

Auf den tellerartigen Blättern glänzten einige Wassertropfen und irgendwo hörte ich eine Libelle summen.

Bilder werden je lebendiger, je länger wir sie ansehen, in sie eintauchen.


Mädchen in leichten, flatternden weißen Kleidern mit aufgelöstem Haar und lachenden Gesichtern lehnten an zwei Baumstämmen, während ihnen drei junge Männer mit brennenden Augen, offenen Rüschenhemden und Weingläser in den Händen zuprosteten.

Das Sonnenlicht umhüllte diese Szene, Sonnenkringel spielten auf der Wiese mit dem Wind und die Blätter der Bäume schienen sich zu bewegen.

Ich konnte stundenlang vor diesem Bild sitzen, lauschen ob ich vielleicht doch ein Wort dieser kleinen Gesellschaft erhasche oder ein Lachen der Mädchen zu mir herüber klingt. In meiner Fantasie hörte ich es natürlich und sonst niemand. Eingesponnen in meine Welt verwunderte mich das eigentlich.

Wenn ich lange genug in die Gesichter der kleinen Gesellschaft schaute, merkte ich immer mehr, wie ihre Blicke konkreter wurden, mich voll anschauten oder mir zulächelten.

Jener junge Mann, etwas abseits der Gruppe, der alleine und verträumt das dunkle Rot seines Weines gegen das Licht betrachtete, sprach mich besonders an. Ich stellte mir vor, neben ihm zu sitzen. Sein Haar war ein wenig gelockt und eine dieser Locken wippte über seiner hohen, klaren Stirne. Ich würde sie gerne nach rückwärts streichen, meine Hand sodann in seinem Haar versinken lassen.

Sein weißes Rüschenhemd war ebenfalls vorne offen und ich glaubte, ihn atmen zu sehen, denn es bewegte sich im Rhythmus seines Atems.

Ich stellte mir dann vor, dass meine andere Hand in sein offenes Hemd schlüpfte um seine warme Haut zu spüren. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Oh, wie mich der Duft des Sommers, der Duft seiner Männlichkeit und sein warmer Atem verwirrte!
Ob er das Glas zum Mund heben wird, es mir dann reichen und wir gemeinsam daraus trinken würden?
Ich stellte mir dann auch vor, dass er lächelnd meinen Kopf mit der anderen freien Hand zu sich heranzieht, mir in die Augen blickt und mich küsst. Durch das Vorbeugen meines Körpers aus meiner sitzenden Position würde der Rand meines Dekolletés tiefer rutschen und meine zarten Brüste hervortreten lassen.

Es war immer die gleiche Situation, ich erlebte sie jedesmal immer wieder und eine ungeheure Sehnsucht danach erfasste mich gleichzeitig.

Nun stehe ich heute wieder vor diesem Bild und kann den Moment nicht erwarten, wo meine Fantasie mich wieder langsam in diese Traumwelt führt, er mich anlächelt, sein Glas hebt oder mir vielleicht zu verstehen gibt, dass er weiß, was ich fühle.

Doch heute ist alles anders, er scheint weiter vorne im Bild zu sitzen, seine Haltung ist noch hingebungsvoller, sinnlicher. Er schien mich sofort anzusehen, als ich den Saal des Museums betrat, ich spürte es mit jeder Faser.

Ich werde mich nicht wieder auf die Bank in der Mitte des Saales setzen, heute gehe ich näher an das Bild heran, ich will ihn ganz nah sein, ihm in die Augen schauen.

Zögernd trete ich ganz nahe an das Bild heran, hebe meinen Blick und wir sehen uns direkt an.
Sein Blick geht mir durch und durch, das Blut beginnt in meinen Kopf zu steigen, es klopft an den Schläfen.
Seine rechte Hand hält wie immer das Weinglas, seine schlanken, langen Finger heben sich wunderbar vom Rubinglanz des Weines ab. Seine linke Hand streckt sich plötzlich mir fordernd entgegen und wie unter Zwang, lege ich meine rechte Hand hinein und betrete wie selbstverständlich die Wiese und befinde mich im Bild.
Es war nur ein kleiner Schritt, ein tiefer Atemzug und unglaubliches Staunen in mir.



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