Lange Zeit lag das Grundstück
ungenutzt am Strand und verwilderte. Die Sträucher wurden immer dichter, Gras
und Unkraut bedeckte den Boden.
Ein wahres Paradies für die
Ferienkinder. Sie bauten sich Unterschlüpfe, sie fütterten die Vögel und
erzählten sich dicht aneinandergedrängt, ihre Geschichten und Erlebnisse.
Das Grundstück lag direkt am
Meer, nur eine kleine Straße trennte es vom Strand, der wunderbar weich und
sauber war. Außerdem spendete ein alter Baum am gegenüberliegenden Straßenrand,
Schatten. Dort suchten die Kinder nach dem Schwimmen Schutz vor der Sonne.
Wie ein Lauffeuer ging die
Nachricht von den Baumaschinen im Ort herum und die Kinder liefen erschrocken
hin, um nach ihrem Refugium zu sehen.
Fassungslos sahen sie zu, wie
die Maschinen erbarmungslos in ihr Paradies eingedrungen waren, die Sträucher
ausrissen und die Erde mit großen Schaufeln ausbaggerten.
Sie setzten sich stumm unter
den großen Baum gegenüber dem Geschehen und konnten es gar nicht glauben.
Der Schock saß tief, umso
mehr als es so überraschend geschah. Nichts hatte auf diese Katastrophe
hingedeutet.
Der Sommer ging vorüber und
die Kinder verschmerzten den Verlust, sie hatten ja noch IHREN Baum. Sie saßen
mit dem Rücken zur Baustelle und versuchten sie zu ignorieren.
Das Haus wuchs und als die
Ferien vorüber waren, stand der Rohbau und glotzte sie aus leeren Fensterhöhlen
böse an, so zumindest empfanden sie es.
Als sie im nächsten Sommer
wiederkamen, war das Haus fertig und auch bewohnt. Es war einstöckig und hatte
einen Mansardenaufbau. Über die Vorderfront zog sich ein breiter Balkon, auf
den zwei Türen und ein Fenster mündeten. Er war begrenzt durch eine schwarze
Balkonbrüstung, die aussah wie ein Spinnennetz.
Die Kinder trafen sich am
Anfang der Straße und gingen geschlossen zum Strand und setzten sich wieder
unter IHREN Baum. Sie taten, als interessiere sie das Haus nicht im Geringsten.
Sie hatten sich viel zu
erzählen, schließlich waren inzwischen einige Monate vergangen.
Sie lachten und schrien
durcheinander, liefen zum Meer und ließen den aufgestauten Energien der letzten
Monate freien Lauf.
Es vergingen einige Tage und als
sie wieder einmal zum Baum zurückkamen, stand ein älterer Mann in einer Art
Uniform da und schaute sie streng an.
„Mein Name ist George, ich
bin Angestellter in diesem Hause. Und mein Herr fühlt sich durch den Lärm, den
ihr hier veranstaltet, gestört. Könnt ihr nicht weiter die Straße rauf oder runtergehen
und dort spielen?“
Die Kinder starrten ihn an.
Was erlaubte er sich? Es war
schließlich IHR Baum und sie waren früher da. Sie schüttelten stumm den Kopf
und sechs Augenpaare richteten sich gleichzeitig und das erste Mal offen und
sehr zornig, auf das Haus.
Ein alter Mann saß in seinem
Rollstuhl am Balkon im ersten Stock mit einer Decke auf den Knien und starrte
scheinbar unbeteiligt zu ihnen herüber. Er wirkte unheimlich und abweisend, was
wahrscheinlich durch die überdimensionierte Sonnenbrille noch verstärkt wurde.
Jedes einzelne der sechs
Kinder hatte den Eindruck, dass er genau ihn ansah. Die Stille war greifbar.
Wie auf Befehl drehten sich
die Kinder plötzlich um und liefen ins Meer. Sie ließen den Bediensteten
einfach stehen und kümmerten sich nicht um ihn. Als sie herauskamen war er
verschwunden, nur der alte Mann saß noch immer am Balkon und schien zu ihnen
herüberzustarren.
Sie rafften ihre
Kleidungsstücke zusammen und gingen nach Hause.
Das Wetter der nächsten Tage
erlaubte es nicht, dass die Kinder ins Meer baden gehen konnten.
Nach einigen Tagen stürmten
sie jedoch wieder die Straße hinunter, um unvermittelt stehen zu bleiben.
Wo war IHR Baum?
Wo der Baum stand, gab es nur
mehr einen Baumstumpf und rund herum lagen die abgeschnittene Zweige und der in
einige Teile zersägte Baumstamm, mit ihren eingeritzten Initialen.
Sie kamen nun langsam näher
und starrten darauf. Dann blieben sie stumm stehen und machten den Eindruck
einer Trauergemeinde am offenen Grab.
Einer der Kinder hob einen
Zweig auf und hielt ihn in der Hand, die anderen machten es ihm nach. So
standen sie eine Weile stumm da; der Kleinste ließ ein Schluchzen hören, das
dann in lautes Weinen überging, als ihn der Älteste an der Schulter nahm und an
sich drückte.
Plötzlich erfasste sie
unbändige Wut. Der Baum war ihnen Schutz, Zuflucht und Freund gleichzeitig
gewesen. Ein einzelner Mann, dem Kinderlachen und ein wenig Lärm störte, hat
ihn einfach entfernt, getötet!
Sie drehten sich um und
blickten in die Richtung des Hauses gegenüber. Der alte Mann saß am Balkon und
starrte wieder zu ihnen herüber. Sie starrten zurück und hoben alle
gleichzeitig jene Hand, die jeweils den Zweig hielt. Es war wie eine Drohung,
wie ein Schwur.
Plötzlich bewegte der alte
Mann seinen Rollstuhl und verschwand im Dunkel des Raumes hinter ihm.
Die Kinder blieben noch eine
Weile in ihrer Stellung und starrten Hass erfüllt hinüber, dann gingen sie mit
hängenden Köpfen, jeder einen Zweig in der Hand, nach Hause.
Doch sie kamen nun jeden Tag
wieder. Am Anfang der Straße sangen sie laut irgendwelche Kinderlieder. Wenn
sie das Haus erreichten, verstummten sie und stellten sich schweigend gegenüber
dem Haus auf. Der alte Mann ließ sich nicht blicken, doch man konnte sehen, wie
sich die Vorhänge hinter dem Fenster bewegten.
Nach zehn Minuten gingen sie
wieder und begannen sofort nach Erreichen des Nachbargrundstückes wieder zu
singen.
Am anderen Ende des Dorfes
fanden sie wieder einen Platz, wo das Meer ebenso schön war, der Strand ebenso
weich und sauber. Es waren auch einige kleine Bäume da, die ein wenig Schatten
spendeten, doch IHR Baum, mit der mächtigen Krone und den weit ausladenden
Ästen fehlte ihnen sehr.
Die mitgenommenen Zweige
hatten längst ihre Blätter verloren und waren trocken und spröde, doch sie
hüteten sie wie einen Schatz. Jeden Tag gingen sie zu dem neuen Haus und
hielten sie anklagend in die Höhe. Erst dann liefen sie zu ihrem neuen
Spielplatze.
Es ging ein Raunen durch das
Dorf, als bekannt wurde, dass der alte Mann, der das neue Haus bewohnte,
plötzlich gestorben war.
Die Kinder trafen sich am
Hauptplatz vor der Kirche und der Älteste las laut und ohne besondere Betonung
die Todesanzeige vor. Danach gingen die Kinder zum Abfallcontainer und warfen
die trockenen und spröden Äste hinein.
Der Tod des alten Mannes ging
ihnen offenbar nicht sehr nahe, sie kannten ihn ja kaum.
Auch über https://www.bookrix.de/-joanavienna/
Großes Lesevergnügen um wenig Geld! Auch über https://www.bookrix.de/-joanavienna/
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen