Fast
ein Engel
Von
Joana Angelides
Wie jeden Tag, gegen Mittag kommt ein vielleicht zwölfjähriger
Bub und leitet seine Schwester mit ihrem Tragkorb zu der Stiege bei der Ponte
die Pugni in der Nähe vom Campo San Barnaba in Venedig. Dort bietet ein Mann immer
seine Ware an: Geröstete Maronen und Kartoffel. Der Ofen verbreitet wohlige Wärme.
Das Mädchen hat einen Korb mit kleinen Blumensträußchen mit, die sie dort
feilbietet. Sie setzt sich auf ihr mitgebrachtes Polster, auf die vierte Stufe
der Treppe, zieht den Umhang enger um sich und lächelt ins Leere. Erst wenn man
neben ihr steht, bemerkt man, dass sie blind ist. Der Bub rückt ihr noch den
Schal zurecht, streicht ihr über die Wange, was ihr Lächeln vertieft, läuft die
Treppe hinauf und lässt sie allein. Er
wird sie am späten Nachmittag wieder abholen.
Und wie jeden Tag erklingt, kaum dass sie sich hinsetzte, aus dem zweiten Stock
des Palazzos Fini leise Geigenmusik. Sie hebt den Kopf, blickt hinauf und
lauscht. Sie liebt es.
Am Balkon des Palazzos steht ein junger Mann und spielt, nur für sie! Er
verlässt selten das Haus, lebt nur seine Musik. Er verunglückte als Kind und
hinkt seitdem. Einen Teil seines Gesichts entstellt eine üble Narbe, die von
der Stirn über das linke Auge bis zur Wange reicht. Er hasst die mitleidigen
und neugierigen Blicke der Menschen und bleibt daher lieber zuhause.
Er spielt heute „Nessun Dorma“ aus Puccinis Turandot und sie lauscht ihm
verzückt! Ihr Lächeln ermutigt ihn. Vielleicht sollte er es doch wagen? Einmal
nur ihre Hand berühren, ihre Stimme hören? Er könnte seine Entstellung durch einen
Kapuzenumhang verbergen, den Kopf geneigt lassen. Als er es wagt und endlich neben
ihr steht, hebt sie ihre Hand und reicht ihm eines der Blumensträußchen.
„Das ist ein kleiner Dank, für ihre Musik. Heute ist vigilia di Natala, Weihnachtsabend,
bitte nehmen Sie!“ Er beugt sich herab, sieht erst nur ihr bezauberndes Gesicht
und dann erst, dass sie blind ist!
„Darf ich Ihr Gesicht berühren? Wie ist Ihr Name?“, fragt sie leise und hebt
die Hand.
„Ja! Mein Name ist Angelo“, stammelt er.
„Oh, Angelo, ein Engel! Hab mir schon gedacht, dass nur ein Engel so schön
spielen kann!“, lächelt sie und tastet sich über sein Gesicht mit geschlossenen
Augen, „un bel viso, ein schönes Gesicht!“
„Wirklich, finden Sie?“, fragt er mit leiser, verhaltener Stimme.
„Ja, und eine wunderbare Stimme, una voce meravigliosa!“
Sie lacht dabei und ihr Lachen klang wie eine silberne Glocke, sodass einige
Leute sich lächelnd umdrehten.
„Eigentlich sollte mein Bruder schon wieder da sein. Ich habe schon fast alle
Sträußchen verkauft!“ und ein suchender Ausdruck prägt ihre Miene.
„Darf ich Sie nach Hause begleiten? Es würde mir Freude bereiten!“
Als er dann, das Mädchen am Arm führend, die Treppe hinaufgeht, streift er die Kapuze
ab. Gleichgültig gegenüber den Blicken anderer. Ihre Schönheit überstrahlte für
ihn alles!
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