Aus der Tiefe des
Sees
Das Bild zeigt den See an manchen Stellen, besonders im Zentrum
dunkelblau, zu den Rändern hin ein wenig heller und eine imaginäre Sonne
zaubert Sonnenkringel auf einige Wirbelkämme.
Ganz tief am Grunde dieses Sees liegt Bernie.
Sie weiß es, sie sah zu, wie er langsam und ohne sich zu wehren darin versank.
Sie konnte nichts dagegen tun, sie saß wie gelähmt am Ufer. Dieses Versinken in
den Fluten war der Schlussakkord eines
langen, sich durch viele Wochen hinziehenden Kampfes einer verzweifelten Seele.
.
Alles begann damit, dass genau vor einem Jahr Margo verunglückte und starb. Sie war sein Leben, seine Muse und jene Kraft, die sein Leben in geordneten Bahnen leitete und sich um alle kleinen und großen Dinge ihres gemeinsamen Lebens kümmerte. Plötzlich war sie nicht mehr da und all diese Dinge stürmten nun auf ihn ein.
Wie sollte er sich um Bezahlung offener Rechnungen kümmern, dafür Sorgen,
dass der Kühlschrank gefüllt war und die Blumen im Garten betreut werden, wo
er bisher nicht einmal gemerkt hatte
dass dies alles erledigt werden musste, um das Sein auf dieser Welt reibungslos
ablaufen zu lassen?
Er hatte sich bisher nur um seine Malerei gekümmert, sich in seine Bilder versenkt, Er begann immer drei oder vier Bilder gleichzeitig zu malen, aß oft tagelang nichts, tobte manches Mal in seinem Atelier herum um dann wieder stundenlang völlig apathisch vor einem der Bilder zu sitzen und es anzustarren.
Margo war die einzige, die dann das Atelier betreten durfte, sich manchmal auch
zu seinen Füßen setzte und mit ihm litt.
Unweit des Hauses lag der See. In den Abendstunden schlenderte er oft
dahin, saß dann am Ufer und ließ seine nackten Zehen von den gekräuselten
Wellen umspielen. Er gab ihm Kraft und Inspiration und glättete seine
zerfurchte Seele. Es gab immer wieder Bilder, in denen der See eine zentrale
Rolle spielte.
An manchen Tagen, kehrte er oft erst in der Dunkelheit zum Haus zurück.
Margo saß dann immer im Halbdunkel im Wohnraum und wartete auf ihn. Schweigend
nahmen sie das Abendessen gemeinsam ein. Und immer nahm er sie dann in die
Arme. Oft lagen sie dann nur regungslos nebeneinander, ließen ihre Hände auf
der Haut des anderen auf und ab gleiten, oder liebten sich leidenschaftlich bis
sie erschöpft einschliefen.
Sie schämte sich nun fast, in diese intimen Details der Beiden eingedrungen
zu sein, doch es war ein unwiderstehlicher Drang, das vor ihr liegende Tagebuch
Margo´s zu lesen.
Sie, Margo und Bernie hatten eine unbeschwerte, gemeinsame Kindheit. Sie waren unzertrennlich und eine eingeschworene Gemeinschaft. Sie liebte Bernie von Anbeginn und litt schrecklich darunter, dass er plötzlich nur Augen für Margo hatte. Wenn sie alle Drei so im Gras lagen und den Wolken nachsahen, stützte er sich auf seine Hand, blickte aber immer nur auf Margo nieder; manches Mal neckte er Margo auch mit einem Grashalm. Dann fühlte sie sich immer wie das fünfte Rad am Wagen, völlig überflüssig. Die beiden flüsterten und lachten gemeinsam und sie war dann immer ausgeschlossen und wollte fliehen, doch sie blieb letztlich.
Als sie eines Tage sein Atelier
betrat um ihn etwas zu fragen, prallte sie erschrocken zurück. Überlebensgroß
war das Bild Margos auf der Staffel zu sehen. Er hatte sie nackt gemalt, das
Bild strahlte ihre völlige Hingabe aus. Da erkannte sie zum ersten Mal sein
unglaubliches Talent und auch, dass die beiden sich liebten.
Im ersten Moment war sie sehr zornig, sie fühlte sich ausgeschlossen,
betrogen und hintergangen. Doch dann siegte die Vernunft und sie gestand sich
ein, dass sie das ja in den vergangenen Jahren bereits gewusst, nur verdrängt
hatte!
Als sie das Haus verließ, ohne dass sie Bernie angetroffen hatte, spürte
sie eine ungeheure Erleichterung. Nun
war es offenkundig und nicht mehr wegzuleugnen.
Kurze Zeit später zog Margo zu Bernie und sie galten offizielle als
Liebespaar.
Er absolvierte die Akademie und begann in der Folge, sich einen Namen zu machen. Ihre Freundschaft bestand weiterhin und sie unternahmen vieles gemeinsam, lachten und philosophierten Nächte lang über Gott und die Welt.
Sie liebte ihn weiterhin ohne Wenn und Aber, nahm es hin, dass ihre Liebe
nicht erwidert wurde.
Sie und Margo vertrauten sich so ihre kleinen Geheimnisse an, über ihrer
beiden Gefühle über Bernie sprachen sie jedoch niemals. Es war ein Tabuthema
zwischen ihnen.
Zwischenzeitlich zog sich zurück, denn sie wollte nicht den Eindruck
erwecken, dass sie sich zwischen die Beiden drängen wollte. Obwohl sie es gerne
getan hätte. Denn irgendwie gehörte Bernie auch zu ihrem Leben!
Als sie im Zentrum der Stadt eine Kunstgalerie eröffnete, übernahm sie auch immer wieder
Bilder von Bernie. Sie verkauften sich gut. Auf diese Art hatte sie nun einen
neuen Zugang zu Bernie gefunden und konnte es so einrichten, dass sie
stundenlang gemeinsam über seine Bilder diskutierten und es schien fast wieder
so zu werden wie früher.
In den Wochen nach dem Tod Margos hatte sie an manchen Tagen und in
Nächten, in denen sie wach lag, mit Gewissensbissen zu kämpfen. Hätte sie den
Tod der Freundin verhindern können, wenn sie sie rechtzeitig zurückgezogen
hätte, als der Zug in die Station einfuhr? Wieso war sie wie gelähmt und konnte
sich nicht vom Fleck rühren, sie nicht zurückreißen?
Oder hatte sie doch nach ihr gegriffen, sie vielleicht sogar gestoßen, anstatt sie zu halten?
Sie verdrängte die Gedanken darüber, wollte sich damit nicht auseinander
setzen. Sie hörte jedoch noch immer die Schreie der Menschen, das Kreischen der
Bremsen, als sie die Treppe hinauflief und sich oben übergeben musste.
Eigentlich stand sie weiter hinten und konnte auch keinerlei Angaben
machen, als sie befragt wurde. In ihrer Erinnerung kamen die Ereignisse immer
durcheinander, sie hörte nur den Schrei, sagte sie aus. Alles andere war
Einbildung, Fiktion, da war sie sich ganz sicher.
Nach dem Tode Margos wurde Bernie immer stiller, unruhiger und chaotischer.
Er verstand nicht, wieso der Strom abgeschaltet wurde, weil er einfach vergaß
die Rechnung zu bezahlen oder die Blumen im Garten verdursteten.
Sie versuchte einiges für ihn zu regeln, doch es gelang ihr nicht, Zugang
zu ihm zu finden. Auch seine Bilder wurden immer greller, unverständlicher und
in der Folge unverkäuflich.
Die totale Abhängigkeit Bernies von Margo war ihr vor deren Tode eigentlich gar nicht so
aufgefallen. Erst als Margo nicht mehr
da war, wurde es offensichtlich.
Er begann immer öfter über den Tod zu sinnieren, entwickelte unübersehbar
eine Todessehnsucht, die ihn immer mehr in sich zurückziehen ließ.
Wie im Nebel sah sie immer wieder, wie Bernie gestern ohne ein Wort zu
sagen, sich von ihr löste, sie einfach am Ufer stehen ließ und langsam aber
stetig auf den See zuging. Er ging ohne zu zögern weiter, das Wasser stieg
immer höher und höher.
Erst als er sich einfach ins Wasser gleiten ließ, rücklings aufschlug, seine
Arme ausstreckte und in den Himmel blickte, rief sie seinen Namen. Doch er
reagierte in keiner Weise, er hörte sie gar nicht.
Er trieb langsam auf den See hinaus, und plötzlich versank er einfach.
Sie starrte ungläubig hinaus, die Oberfläche kräuselte sich noch eine Weile
und dann war die Wasseroberfläche wieder so ruhig, wie vorher.
Sie kam gar nicht auf den Gedanken,
ihm nachzulaufen, zu versuchen ihn wieder heraus zu holen. Sie stand nur da und
starrte auf die Wasserfläche.
Die Polizei machte ein Protokoll mit ihr, sie unterschrieb es.
Wahrscheinlich wird sie eine Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung
bekommen.
Es war nur ein weiterer Baustein in dem abbröckelnden Gebäude ihres Lebens
Sie löschte das Licht, ordnete einige Papiere auf dem Schreibtisch und
schloss die Galerie ab
Während der Fahrt hinaus zum See, passierte sie einige Orte ihres
gemeinsamen Lebens. Die kleine Kirche in der Mitte der Siedlung, die kleine
Schule daneben, in der sie alle Drei die ersten Schuljahre verbrachten, die n der Hauptstraße liegenden Elternhäuser
und den Bahnhof.
Dann bog sie langsam in die Forststraße ein, die zum See führte und parkte
nicht weit vom Ufer des Sees und stieg aus. Ohne den Wagen zu versperren, wozu
denn auch, ging sie langsam auf den See zu. Es begann zu regnen.
Ihre Tränen flossen nach
innen, unbemerkt. Die Sehnsucht, sich umarmen zu lassen erreichte
ihren Höhepunkt. Es wäre Erlösung sich von den Wellen empfangen, umschließen zu lassen vom schwarzen Glas der
Fluten. Sie hörte Rufe aus der Tiefe, es klang wie seine leise
flüsternde Stimme. Die Wellen erzeugten Bewegungen, Treppen gleich, die abwärts
führten. Sie war vor Tränen fast blind, sie mischten sich mit dem Regen. Sie
ließ sich führen von ihrer Sehnsucht. Sie ging diese Treppe hinab, ließ sich
ziehen und locken und Erleichterung machte sich breit.
Der Tod umklammerte sie mit
ehernen Armen, die Strudel zogen sie hinab
in die Erlösung.
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