Drehtür in die Vergangenheit.
Nachdem Albert Gabini das Hotel durch die breite
Drehtüre betreten hatte, saß er nun in der Hotellounge in einer der Fauteuils
und betrachtete die sich ihm darbietende Geschäftigkeit und die sich rundum
bewegenden Personen. Die Geschäftigkeit in der Hotellounge erstaunte ihn.
Irgendwas war anders, als in den vergangenen Tagen. Er konnte das beurteilen,
denn er las jeden Abend noch in den herumliegenden Zeitungen, bevor er sich in
seine Suite begab.
Nachträglich schien es ihm, als wäre die Drehtüre
heute schlecht eingestellt, denn er wurde zweimal hindurch geleitet. Es war wie
ein großer Schwung, der ihn hineinführte, wieder hinaus und dann gleich wieder
hinein.
Er fand außerdem, dass sich ungewöhnlich viele
Personen in der Halle und auf der Treppe befanden.
Manche der Personen gingen aneinander vorbei, als
würden sie sich nicht sehen, andere wieder grüßten sich, blieben stehen und
sprachen sogar miteinander.
Irgendwie passten einige nicht herein; sie waren in
einer Art gekleidet, die ihn an frühere Zeiten erinnerten, die er nur von
Bildern oder alten Filmen kannte. Teilweise schienen sich einige Gäste
langsamer, wie zeitverzögert zu bewegen. Oder doch nicht? Dies betraf vor allem
jene Gäste und auch das Personal, welche so anders gekleidet waren.
Es musste an der Hitze liegen die seit einigen
Tagen die Stadt lähmte, dass er solche Eindrücke hatte, anders war das nicht zu
erklären.
Durch die Drehtüre, die dauernd in Bewegung war,
trat nun eine Dame, eine junge sehr elegante Dame ein, gefolgt von einem Mann
im Chauffeur-Livree, der vier Koffer schleppte. Zwei kleinere hatte er unter
den Armen eingeklemmt und zwei große schob er vor sich hin.
Er sah sie bewundernd an, konnte seinen Blick kaum
von ihr wenden.
Die junge Frau würdigte ihm keines Blickes, sondern
ging langsam und sich ihrer Wirkung bewusst auf die Rezeption zu.
Sie war groß gewachsen, hatte ein knöchellanges,
enges Kleid an, das vorne etwas kürzer war und ihre schlanken Beine ahnen ließ.
Ein langer Pelzschal war um ihren Hals geschlungen und hing ihr rückwärts bis
zur Kniekehle hinab.
Sie trug eine enge Kappe, glitzernd und funkelnd
mit einer schräg angebrachten Feder, in der Hand einen langen Zigarettenspitz
aus Jade. Sie wirkte wie aus einem Film über den Beginn des zwanzigsten
Jahrhunderts.
Er sah sich um, vielleicht wurde auch wirklich hier
ein Film über diese Zeit gedreht, das würde diese seltsamen Kostümierungen
erklären.
Es bewegten sich zwei Hotelpagen in der Mitte der
Halle. Er bemerkte, wie einer der beiden sofort mit seinem Kofferwagen zu dem
Mann mit den vielen Gepäckstücken eilte, der andere schien ihn gar nicht zu
bemerken, ja er blickte einfach durch ihn hindurch.
Die junge Dame war inzwischen an der Rezeption
angelangt und schlug mit der Hand auf die Klingel. Einige der Gäste, aber
ausschließlich jene die ein wenig nostalgisch gekleidet waren, drehten sich um,
die anderen wieder beachteten sie gar nicht, als würden sie sie nicht einmal
sehen.
Es schienen sich zwei verschiedene Ebenen
gleichzeitig in einem Raum zu bewegen. Es war unfassbar!
In der Rezeption waren zwei Angestellte tätig. Der
eine war ein etwas älterer Mann, offenbar der Chef-Portier, mit einem
Schnurrbart und enger gestreifter Weste, der andere war ein junger Mann, etwas
salopper gekleidet, mit offenem Hemdkragen, Schal und schwarzer Weste.
Zu seiner Überraschung beachtete der jüngere
Angestellte die wirklich sehr attraktive junge Dame gar nicht und beschäftigte
sich weiter mit dem Einordnen von Briefen in die Fächer der Gäste.
Der Ältere jedoch begrüßte die junge Dame
überschwänglich, als würde er sie schon lange kennen.
Der Chauffeur stellte die Koffer nun ab und
bedankte sich bei dem Pagen und er konnte sehen, wie er ihm einen Geldschein
gab. Dann drehte sich der Chauffeur um und ging durch die Drehtüre nach
draußen.
Albert stand sofort auf und ging ebenfalls durch
die Drehtüre nach draußen, um zu sehen, welchen Wagen er fuhr.
Die Hitze schlug ihm entgegen, es flimmerte die
Luft. Der Chauffeur war nirgendwo zu sehen. Er schloss für einen Moment die
Augen und beschloss, wieder in das Hotel zurück zu gehen. Er konnte auch keinen
Wagen sehen, der wegfuhr, oder sich am Parkplatz einparkte. Er schüttelte den
Kopf und verstand gar nichts mehr.
Als er durch die Drehtüre wieder die Hotelhalle
betrat, blieb er verwundert stehen.
Es waren nun nicht mehr so viele Gäste da, auch der
zweite Page war verschwunden und der junge Rezeptionist war auch nicht zu
sehen.
Vielleicht träumte er auch nur? Doch auch nach
einigen Augenblicken und zweimaligem tief einatmen, war die Situation
unverändert.
Die Gäste unterhielten sich und bewegten sich wie
vorher, bedächtig und langsam, doch sie waren nun alle in dieser nostalgischen
Mode gekleidet, die er schon vorher registriert hatte. Die anderen Gäste waren
nicht zu sehen.
„Gehen sie mit mir auf einen Drink in die Bar?“ Sie
stand vor ihm, jung und elegant, wie sie ihn bereits vorher beeindruckt hatte
Sie hielt wieder diesen langen Zigarettenspitz aus Jade zwischen ihren langen
Fingern, hielt ihn mit ihren weißen kräftigen Zähnen fest und lächelte. Sie
hatte grüne Augen und erinnerte an eine Tigerin.
„Ja, ich würde mich freuen!“ Sagte er das wirklich?
Sie hakte sich unter und sie gingen in die kleine
Bar links neben der Rezeption.
Sie schwang sich auf den Barhocker und dabei
rutschte ihr enges Kleid ziemlich weit nach oben und ihre Beine schienen
überhaupt nicht enden zu wollen.
War es hier immer so heiß?
„Wir möchten zwei Gläser Champagner, Kellner!“ Ihre
Stimme war etwas schrill und eine Spur zu laut.
„Monsieur Alfredo hat schon nach Ihnen gefragt,
Mademoiselle!“ Ihm fiel auf, dass der Kellner einen tiefen warnenden Ton in der
Stimme hatte, oder täuschte er sich da?
„Achja? Ich bin eben erst gekommen. Nun habe ich
aber keine Zeit, habe einen Freund getroffen, sehen sie das nicht?“
Der Kellner zuckte mit der Achsel und wand sich wieder
seinen Gläsern zu. Er konnte bemerken, wie ihm der Kellner einen seltsamen
Blick aus den Augenwinkeln schenkte und seine linke Augenbraue leicht nach oben
zog.
Die junge Dame hielt das Glas in ihrer Hand und
schenkte Albert ein charmantes Lächeln.
„Prost, mein Freund! Wie heißen sie eigentlich?“
„Mein Name ist Albert, Albert Gabini, auf Ihr
Wohl“, er verneigte sich leicht und stieß mit ihr an.
„Michelle Rochas“, sie neigte leicht den Kopf zur
Seite und schenkte ihm ein kleines Lächeln. Sie setzten beide das Glas an die
Lippen und er spürte das Kribbeln des Champagners auf seiner Zunge.
In diesem Augenblick flog die Glastür der Bar auf
und es betraten drei Männer den Raum.
Er wusste sofort, der Mann in der Mitte war
Monsieur Alfredo!
Sein weißer Anzug saß tadellos, sein Hut hatte eine
etwas größere Krempe, die tiefrote Blume an seinem Jackett hatte dieselbe
Farbe, wie sie die Lippen von Michelle zeigten.
In der Hand trug er einen schwarzen Stock mit einem
Silberknauf, den er nervös drehte.
Seine Füße steckten in Schwarzweiß gemusterten
Schuhen und er wippte mit ihnen leicht von vorne nach rückwärts.
Die beiden Männer hinter ihm blickten streng und
wie es Albert schien, drohend in seine Richtung und hatten jeweils beide Hände
lässig in den Jackentaschen. – Es war wirklich heiß hier drin!
Michelle war von Barhocker gerutscht. In einer Hand
hielt sie nach wie vor das Glas, in der anderen Hand ihren Zigarettenspitz.
„Wer ist das?“ Alfredos Stimme war leise und
drohend und sein Blick verhieß nichts Gutes.
„Ein sehr charmanter und lieber Freund!“ Sie warf
den Kopf nach hinten und lachte laut.
„Ja, ist schon gut, du bist betrunken, wie immer!
Verabschiede dich und komm her!“ Seine Stimme war nun lauter, herrischer und
klang, als würde sie keinen Widerspruch vertragen. Er schnippte mit den Fingern
und drehte sich halb um.
„Komm´ doch du her, ich stelle dich vor! Und
außerdem will ich dir sagen, dass ich keine Lust mehr habe, immer sofort zu
kommen, nur, wenn du mit den Fingern schnippst. Ich bin ja kein Schoßhündchen!“
Albert hielt die Luft an und seine Blicke gingen
zwischen den beiden hin und her. Es war eine ungeheure Spannung im Raum.
Er griff in seine Jackentasche auf der Suche nach
dem Feuerzeug. Eine Zigarette war im Moment das Einzige für ihn, um die
Spannung abzubauen.
Er hat es nicht bemerkt, als der Mann im weißen
Anzug gleichzeitig in die Tasche seines Jacketts griff und einfach durch den
Stoff hindurch auf ihn schoss.
Doch Michelle hatte es bemerkt, vielleicht sogar
erwartet. Sie warf sich dazwischen und sank im nächsten Moment getroffen zu
Boden.
Der Schuss war laut und sein Widerhall blieb
sekundenlang im Raum.
Albert beugte sich über Michelle, schob seinen Arm
unter ihren Rücken und hielt ihren Kopf.
„Sie haben zu lange gezögert, sie hätten schneller
schießen müssen!“ Flüsterte sie, bevor das Leben aus ihr entwich.
„Kellner, so holen sie doch die Polizei und einen
Krankenwagen, sie stirbt!“
Der Kellner beugte sich über die Theke und sah ihn
fragend an.
„Was machen Sie denn da unten? Sind sie vom
Barhocker gestürzt?“
Albert schaute erstaunt um sich und erhob sich. Er
war der einzige Gast in der Bar. Der Kellner war herbeigeeilt und stützte ihn
besorgt.
„War ich nicht mit einer jungen Dame an der Bar,
und waren da nicht gerade noch drei Männer an der Türe?“
„Nein sie waren alleine, haben aber seltsamer Weise
zwei Gläser Champagner bestellt. Ich dachte sie erwarten jemand.“
Der Gast legte eine Banknote auf die Theke und
wandte sich der Türe der Bar zu. Als er in die Hotelhalle hinaustrat bot sich
ihm ein verändertes Bild dar. Es war noch immer ein lebhaftes Treiben in der
Halle. Doch die Leute von der Filmgesellschaft waren scheinbar alle
verschwunden. Er trat an die Rezeption.
„Meinen Schlüssel bitte, Zimmer 332“, bat er den
jungen Rezeptionisten, der ältere Portier war scheinbar auch nicht mehr da.
„Hier bitte! Ist ihnen nicht gut, sie sehen so
blass aus?“
„Ich war eben in der Bar, dort ist es ein wenig
dunkel.“
„Ach, in unserer Michelle-Bar!“ Der junge Mann
lächelte geheimnisvoll.
„Michelle-Bar?“ Seine Neugier war geweckt.
Es war wirklich heiß hier drin!
„Ja, so heißt sie“, er senkte die Stimme zu leisem
Flüstern, „es wird erzählt, dass im Jahre 1923 in dieser Bar Michelle, die
Geliebte des damaligen Hotelbesitzers Monsieur Alfredo, erschossen wurde. Es
wurde nie eindeutig geklärt, wer sie erschoss. Man nahm an, es war ein Fremder,
der in der Bar war. Doch der Fremde konnte flüchten und wurde nie gefunden.
Monsieur Alfredo verkaufte in der Folge das Hotel. Er verschwand dann
irgendwann und wurde niemals wiedergesehen. Man sagt, Michelle spukt noch immer
im Hotel, weil ihr Tod nie gerächt wurde“.
„Eine sehr interessante Geschichte!“ Er nahm seinen
Schlüssel und begab sich zum Lift.
Das Feuerzeug in seiner Tasche fühlte sich kalt und
fremd an.
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