Der Weihnachtsbär
Hallo Max,
Totale Stille, der kleine See bei Misurina lag dunkel und völlig still da, als hätte er ein großes Geheimnis zu bewahren. Selbst bei Tage erschien er mir unheimlich, ja abweisend. Ob das daran lag, dass er immer sehr kalt und unbewegt ist?
Er ist eingebettet zwischen dem Sorapis und dem Monte Cristallo, rundum einige besonders schöne Hotels, versetzt in die majestätische Kulisse der Bergwelt.
Rundherum lag der weiße, glitzernde,
unberührte Schnee. Er erinnerte mich an eine weiße Decke, die alles unter ihr
liegende schützend zudeckt.
Hast du das alles überhaupt registriert, in dich aufnehmen können?
Es war gleich in einer der ersten Nächte, wo ich ihn bemerkte. Er erschien zwischen den Bäumen, verschwand manchmal hinter einem dicken Baumstamm, oder saß auf einem Baumstumpf und blickte unentwegt zu uns herüber. Mein erster Gedanke war, es ist ein Bär! Doch das verwarf ich sofort wieder, weil erstens Bären hier fast nie vorkommen und zweitens menschenscheu sind.
Er verschwamm mit der Landschaft, war ein Teil von ihr. Sein Gesicht konnte ich nicht ausnehmen, er trug einen weiten Hut mit Krempe und einen ebenfalls weiten Mantel. Nach einigen Tagen war es für mich ganz selbstverständlich, dass er da war. Manchmal grüßte er mit dem Hut in der Hand.
Seine Anwesenheit ließ damals schon die Luft und meinem Innersten flimmern.
Ich verstand gar nicht, wieso du ihn nicht bemerktest. Ich machte dich einige Male auf ihn aufmerksam, doch immer, wenn du dann in seine Richtung blicktest, war er verschwunden.
Als du mich dann unvorhergesehen für einige Tage allein ließest, verschloß ich ängstlich die Eingangstüre, nicht ohne vorher einen forschenden Blick in die Umgebung zu senden. Es war niemand zu sehen.
Da es aber ein strahlender Tag wurde, überwand ich meine Ängste, schnallte meine
Skier an und begann in der Nähe der Hütte herum zu fahren. Wie du weißt,
bin ich eine begeisterte Langläuferin und genoß diese Stille und
Einsamkeit daher auf der gut ausgebauten Loipe.
In einem kurzen unaufmerksamen Moment glitt
ich auf einer kleinen Welle aus und stürzte. Der stechende, plötzliche Schmerz
in meinem Knöchel signalisierte nichts Angenehmes.
Ich lag im Schnee und konnte mich vor lauter
Schmerz kaum bewegen.
Er kam langsam auf mich zu, mir blieb der
Atem weg, als er sich bückte, mich wie ein kleines Kind aufhob und ohne auch
nur ein Wort zu sprechen mit mir in die Richtung unserer Hütte schritt.
Mein Herz blieb fast stehen vor Verwirrung,
Angst und Fassungslosigkeit. Ich wagte es nicht, ihn anzusehen.
„Übrigens, mein Name ist Tonio, ich bin hier
der Förster. Ihr Freund, der Ihnen die Hütte zur Verfügung stellte, ist mein
Cousin. Er hat mich telefonisch informiert. Hat er Ihnen das nicht gesagt? Ich
sollte auf sie aufpassen, habe wohl versagt!“
„Oh, sehr erfreut. Nein, zu mir hat er nichts
gesagt, vielleicht zu Max. ; und Nein,
sie haben nicht versagt, ganz im Gegenteil!“, Ich spürte, wie mir die Röte in
die Wangen schoß.
Bei der Hütte angekommen, ließ er mich sanft
auf die Bank gleiten und streckte seine Hand fordernd aus. Er wollte den
Schlüssel, den ich mit zitternder Hand aus meiner kleinen Tasche am Gürtel
hervorholte.
Im Inneren der Hütte setzte er mich auf die
Bank beim Herrgottswinkel und kniete vor mir nieder, um mir vorsichtig und mit besorgtem Blick zuerst den
einen, dann den anderen Schuh auszuziehen.
Er ging dabei sehr zart und zögerlich mit
meinen Füßen um und blickte mich immer wieder fragend und besorgt an.
Ich lächelte ihn an. Wieso hatte ich eigentlich plötzlich keine Angst mehr vor ihm?
„Oh, die Waldfee kann ja lächeln!“
Ich faßte mich und blickte ihn das erste Mal voll an.
Sein von der Sonne gebräuntes Gesicht hatte
eine Menge sympathischer Falten, die blauen Augen waren klar und strahlend und
hatten rund herum kleine Lachfältchen.
„Ich danke Ihnen, sie waren ja im richtigen Moment am rechten Ort!“, versuchte ich zu scherzen.
„Bin ich immer, kleine Frau,“ sagte er mit einem Lachen in der Kehle und stand auf.
„Ich werde die Schuhe in den Vorraum stellen
und dann ihre Skier holen!
Er richtete sich auf und sah fragend auf mich
nieder.
„Soll ich mit dem Mini-Car kommen und sie nach Cortina zum Arzt fahren, vielleicht haben sie sich ja was gebrochen? Wo ist eigentlich ihr Mann?“
Hörte ich da eine kleine Entrüstung in seiner Stimme, dass du nicht da warst, wo ich doch so verletzt bin!
Da hörte ich mich überraschend sagen:„Das ist nicht mein Mann, ist mein Freund und er kommt erst wieder in zwei Tagen.“
Er stand vor mir und schaute mich forschend und fragend an, sagte aber nichts.
Als er gegangen war, schleppte ich mich in
die Schlafkammer, entledigte mich der nassen Kleider, schlüpfte in den
wärmenden Hausanzug und versuchte unter kleinen Schmerzensschreien, frische,
dicke Socken überzustreifen. Schmerzhaft war nur das linke Bein, das
andere war unverletzt.
Dein SMS kam ganz unerwartet und traf mich tief.
„Muss noch zwei Tage anhängen, tut mir leid.
Amüsiere dich. Kuss Max“.
Na, du hast gut reden! Nun saß ich da,
alleine mit einem Weihnachtsbaum und ein paar Kerzen!
Da hörte ich schon draußen das
Motorengeräusch eines Mini-Cars und
gleich darauf flog die Türe auf und mein „Bär“, wie ich ihn inzwischen bei mir
nannte, stand im Türrahmen.
„Also, wo haben sie denn eine Jacke und eine
Decke, wir fahren nach Cortina zum Arzt und ich bringe sie dann auch wieder
hier her zurück.“
Wie im Trance reichte ich ihm beides und
steckte mein Handy rasch in der Jackentasche, als hätte ich Angst, er könnte
dein SMS von soeben lesen.
Als wir zurück kamen lag die Dämmerung schon
wie eine dunkle Decke über der Landschaft, aus dem im Tal liegenden Cortina
konnte man hier und dort Lichter aufblitzen sehen und als wir bei der kleinen
Kapelle in Alvera vorbeifuhren, hörte ich Frauenstimmen das abendliche
Mariengebet lesen.
Dieses Mal konnte ich, gestützt auf seinen
Arm schon selbst in die Hütte gehen, das Bein war fest verbunden und ich hatte
eine kleine Schiene beim Knöchel. Gebrochen war nichts, nur eben angeschlagen.
Drinnen
war es warm und gemütlich; mein Bär legte einige Scheite Holz in den
herunter gebrannten Kamin, es begann zu knistern und einige kleine glühende
Holzstückchen sprangen heraus.
Am Boden vor dem Kamin hockend versuchte er mit dem Schürhacken die Scheite in die richtige Lage zu schieben. Er hatte seinen schwarzen Mantel und die wattierte Jacke ausgezogen und ich betrachtete verstohlen seinen breiten Rücken, als ich, ein wenig humpelnd, bei der Kochstelle eine einfache Brettl-Jause richtete.
Man konnte durch das karierte Hemd seine breiten Schultern und den muskulösen Rücken erahnen. Er war nach vorne zum Feuer gebeugt und der rote Schein des Feuers zauberte Lichter in sein dunkles Haar. Kleine Schauer liefen meinen Rücken auf und ab, er faszinierte mich.
„Kommen sie, ich habe was zu essen gerichtet, aber die Flasche Wein müssen sie aufmachen“, ich hielt ihm die Flasche hin als er sich mir zuwandte. .
Ich zitterte plötzlich, sein Blick erinnerte mich an die dunklen Nischen meines Ichs, weckte tief verschüttete Bedürfnisse, ließ meine Knie weich werden.
Ja Max, dieses Gefühl fehlte schon lange zwischen uns, du hast unser Feuer scheinbar niederbrennen lassen und nun fror ich manchmal.
Er stand auf, nahm mir die Flasche Wein aus der Hand, holte die beiden Gläser und das Holzbrett mit den Broten und stellte alles auf den Boden vor dem Kamin.
Seine Bewegungen waren zwar ruhig und
bedächtig, aber voller Spannung.
Als er so vor mir stand, mit seinem offenen
Lächeln, das seine Zähne zeigte und die Fältchen bei den Augen vertiefte, gaben
meine Knie nach.
Er deutete das anscheinend zwar anders, und bevor ich stürzen konnte, hob er mich schnell wieder hoch und ließ mich vorsichtig auf das dicke Bärenfell niedersinken.
„Wir werden hier vor dem Kamin bleiben, die Wärme geniessen und ich werde ihr Bein auf einen Polster hoch lagern. Es tut sicher weh?!“
Ohja, es war ein wunderbares Gefühl von diesem großen, fürsorglichen Bären umsorgt und umhegt zu werden. Daher nickte ich sehr heftig, obwohl der Schmerz kaum mehr spürbar war.
Er nahm wie selbstverständlich von der
Sitzbank den größten und dicksten Polster, schob ihn hinter meinen Rücken, einen anderen
Polster legte er unter mein Bein und ließ es langsam und sanft darauf sinken.
Die Hütte verwandelte sich plötzlich in eine urgemütliche Bärenhöhle mit Kamin.
Oh, ich war seinen tiefblauen Augen schutzlos ausgeliefert, sein Blick durchfuhr
mich wie ein Blitz und ich beschloß, dich vorläufig einmal, einfach zu vergessen.
Und es gelang mir mühelos.
Das Feuer leuchtete durch das dunkle Rot des Weines, ließ ihn funkeln und so schmeckte er dann auch.
Ich lehnte mich in den dicken weichen Polster zurück, hörte seiner Stimme zu, die von seinen Erlebnissen mit den Tieren und dem Wald erzählte und spürte, wie sich langsam in meinem Inneren eine wohltuende Unruhe breit machte.
Die Wärme stieg in mir auf, verbreitete sich wohlig in meinem Inneren, unsere Hände berührten sich immer wieder wie zufällig beim Anstoßen, unsere Blicke bekamen plötzlich Widerhaken, konnten sich kaum voneinander lösen und wir bemerkten gar nicht, dass die Scheite im Kamin langsam niederbrannten.
Er hat begonnen meine Füße, die in dicken
weißen Socken steckten zu massieren, dann die Socken abzustreifen und die
Massage fortzusetzen. Du weißt ja, das
löst bei mir explosionsartig Empfindungen aus, beginnend an den Beinen, hinauf
bis in den Unterbauch, macht mich unruhig und kleine Seufzer und tiefe Töne
entringen sich meiner Kehle. Er genoß es und machte, als würde er es nicht
bemerken.
Es wird ewig ein Geheimnis bleiben, wie sich
zwei Menschen plötzlich in einer Umarmung wiederfinden, die sich vorher fast
nicht gekannt haben.
Knöpfe, Ösen oder Verschlüsse gehen scheinbar von selbst auf,
Hände finden sich auf nackter Haut wieder, erforschen den Körper des anderen.
Finden beglückende Reaktionen, vertiefen
Empfindungen und werden von Emotionen mitgerissen.
Seine Hände auf meiner Haut, in Tiefen und
Höhen meines Körpers, seine Zunge an empfindlichen Stellen, seine Stimme in
meinem Ohr, alles zusammen löste die Lust aus ihrer lauernden Ruhe und ließ sie wild tanzen.
Es gibt Stellen an meinem Körper, die ich
noch nie so klingen hörte, als an diesem ersten Abend. Punkte, die plötzlich
erwachten, Signale aussendeten und wie
Feuer brannten. Irgendwann loderte der ganze Körper und wurde zum Flächenbrand.
Wir kehrten erst wieder in die Wirklichkeit zurück, als das Feuer im Kamin ganz herunter gebrannt war.
Irgendwann fand ich in mein Bett und mein Bär verließ unsere Höhle.
Deine nächsten SMS´s las ich mit großer Gleichgültigkeit, sie klangen immer gleich und signalisierten immerwährend deine weiter andauernde Abwesenheit.
Mein einziges SMS an dich lautete dann schlußendlich:
„Streiche meine Telefonnummer aus deinem
Verzeichnis“ und das meinte ich ernst.
Meine Tage gehörten der Langlaufloipe, kurzen Einkäufen und kleinen Spaziergängen, doch die Abende gehörten ihm, meinem Bär aus den Dolomiten.
Wunderbare Abende, glühende Scheite im Kamin, glühende Körper davor. Heiße geflüsterte Bekenntnisse, erbarmungslose Fingerkuppen und fordernden Zungenspitzen, wilde Ritte durch noch nie erlebte Höhen und ermattete, weiche, biegsame Körper.
Am Weihnachtsabend holte mein Bär das
Tannenbäumchen, dass wir vor der Hütte angelehnt hatten und schmückte es nach
meinen Anordnungen. Es war äußert spannend zu beobachten, wie seine großen und
ungeübten Finger die Kerzen befestigte und wir lachten herzlich. Unsere
Stimmung wurde immer übermütiger und herzlicher. Die Flasche eines Südtiroler
Rotweins wurde inzwischen leer und wir sangen dann sogar leise
Weihnachtslieder. Als die Kirchenglocken aus Cortina zu uns herauf drangen,
standen wir vor der Hütte, er hatte einen Arm um meine Schultern gelegt und wir
küßten uns.
Ich bin dann ohne dich abgereist, da die zwei Wochen vorbei waren, Zwei wunderbare Wochen mit bleibender Erinnerung an die erhabene Schönheit und Wildheit der Natur, rot glühende Sonnenuntergänge und leidenschaftlichen Nächten mit einem Weihnachtsbär.
Ich sehe nun die Welt der Bären in ganz anderem Licht. Sicher werde ich wiederkommen, meinen Bären suchen und mich mit ihm in einen temporären Winterschlaf in eine der zahlreichen Höhlen in den Dolomiten begeben.
Schade, dass du so gar nichts von einem Bären hast.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen