Die Lokomotive
von Joana Angelides
Alte
Bilder üben auf Menschen die unterschiedlichsten Wirkungen aus.
Manche
Menschen sind berauscht von Farben, oder Bildkompositionen. Manche erleben große
Bilder als beeindruckend, andere sind auch von kleinen Miniaturbildern
fasziniert.
Eduard
fesseln Bilder der tobenden See, wie solche von William Turner, oder Bilder
unheimlicher Schlösser auf Klippen oder in dunklen Wäldern.
Eduard
bewacht als Angestellter einer Wach- und –Schließgesellschaft, nachts die Säle
und Gänge des Kunsthistorischen Museums. Jede Nacht wandert Eduard
kontrollierend durch die Gänge, durch die Stockwerke und steckt seine
Steckkarte in jedes Kontrollkästchen. Tag für Tag, Jahr für Jahr.
Die vielen
Jahre dieser Arbeit formten ihn zum Sonderling. Da er tagsüber schläft, und
immer nachts arbeitet, verblieben so gut wie keine Freunde. Nur seine einzigen
Freunde, die Bilder im Museum, hielten ihm die Treue. Er nimmt sich nie Urlaub,
arbeitet auch, wenn er sich nicht wohl oder krank fühlt und spricht mit „seinen“
Bildern.
Zwischen
den Rundgängen sitzt er in der Mitte auf den Sitzbänken und starrt die Bilder
so lange an, bis sie zum Leben erwachen.
Es liebte
die Gewohnheit, dann aufzustehen, wie unter Zwang auf das Bild loszugehen und
mit dem Bild zu verschmelzen.
So
geschieht es auch heute. Er sitzt auf einer der Sitzbänke in der Mitte des
Raumes, vor einem Bild, das eine Feuer und Dampf ausstoßende Lokomotive zeigt,
die über eine Brücke donnert, unter ihr ein reißender Fluß. Die Brücke scheint
zu schwanken und zu ächzen unter dem Gewicht des Zuges, einige Streben sind
gebrochen und scheinen in die Tiefe zu fallen. Es ist Nacht und der Himmel ist
aufgewühlt, von Wolken und Blitzen beherrscht.
Er steht
langsam auf, nähert sich dem Bild und hört plötzlich deutlich das Donnern und
Zischen der Räder und des Dampfes.
Er wird
erfaßt vom Luftzug der gigantischen Zugmaschine, kann sich im letzten
Augenblick hinauf ziehen und steht nun auf dem Trittbrett der weiter rasenden
Lokomotive. Die Funken verbrennen sein Gesicht und der Ruß in seinen Augen
nimmt ihm die Sicht.
Wo ist nur
der Zugführer, rast der Zug führerlos durch die Nacht?
„Schneller,
schneller!“ Neben ihm steht eine Gestalt, in einen langen Umhang gehüllt, die
Kapuze ins Gesicht gezogen, in der Hand eine Sense. Seine Augen erahnt man in
den dunklen Höhlen, die das Grauen versprechen.
Eduards
Kehle verengt sich, ganz trocken, wie zugeschnürt. Nicht überlegen, wer das
sein könnte, nur nicht daran denken!
„Wir
werden entgleisen! Lassen sie mich Dampf ablassen, die Bremsen ziehen!“,
schreit Eduard und versucht die unheimliche Gestalt wegzudrängen, um zu den
Schaltern und Hebeln zu kommen.
Eduard
kann nichts sehen, der Dampf umhüllt die Lokomotive, nun peitscht Regen von
allen Seiten in das offene Führerhaus und Flammen und Funken schlagen aus der
offenen Türe der Befeuerung.
„Wo ist
der Lokführer oder der Heizer? Wenn sonst niemand da ist, müssen sie mir
helfen!“, schreit er gegen das Inferno.
Es wird
ihm plötzlich klar, daß er keine Ahnung von der Führung einer Lokomotive hat;
noch dazu dieser riesengroßen Lokomotive, mit wer weiß wie vielen Waggons
dahinter.
Der
unheimliche Geselle stößt ein Lachen aus, das tief aus seiner Kehle zu kommen
scheint.
„Sind längst
aus dem Zug gefallen, gehören längst mir. Wir werden mit diesem Zug in die
Tiefe stürzen und die Ernte wird ungeheuerlich werden!“
Eduard hat
endlich ein Tuch gefunden, es ist schmutzig und voller Öl und Ruß. Er versucht sein
Gesicht zu säubern, den Blick frei zu bekommen um die Befeuerungstür zu schließen
und der Hitze zu entkommen. Vergebens!
Am Rahmen
des Führerhauses taucht plötzlich eine mit Ruß und Blut verschmierte Hand von
außen auf, sich an den Rahmen klammernd.
Es muß
einer der beiden Männer sein, die angeblich aus dem Zug gefallen sein sollen.
Um ihn abzulenken wirft sich Eduard mit aller Gewalt gegen die weiße hohe
Gestalt des Mannes mit der Sense hinter ihm und bringt ihn zum Wanken.
Mit der
anderen Hand ergreift er die Hand am Rahmen des Führerhauses, die sich fest an
die seine klammert, schon kommt auch die zweite Hand und er erfaßt auch diese.
Eine bullige Gestalt taucht nun an der Seite des noch immer dahin rasenden
Zuges auf und schwingt sich in das Führerhaus.
Die
Lokomotive stößt wieder Dampf aus, man kann die Hand nicht vor den Augen sehen.
Der bullige Mann stößt mit bloßer Hand die Befeuerungstür zu.
Eduard
ergreift nun die daneben stehende Schaufel und schlägt mit aller Wucht auf den
sich an die Sense klammernden Mann hinter ihm, sieht ihn stürzen und rückwärts
aus dem Führerhaus fallen. Er schaut ihm nach; noch während des Falles löst
sich die Gestalt im Rauch der Lokomotive auf, nur ein heiserer Schrei verhallt
gedämpft.
Der Zug
rast in einer undurchdringlichen, dichten Wolke von Dampf und Funken weiter über
die ächzende Brücke. Einzelne, herabfallende Trümmer versinken in den tosenden
Fluten des Flusses unter ihnen.
„Danke,
ich danke Ihnen!“ Der bullige Mann streckt ihm überraschend die blutende Hand
entgegen. Sein von Ruß verschmiertes Gesicht, seine große klaffende Wunde an
der Stirn, seine rot umrandeten Augen, lassen Eduard erschrocken zurückweichen.
Er stürzt und schlägt auf dem Boden des Führerhauses auf.
Der Lärm
flaut ab, seine Wahrnehmungsmöglichkeit entschwindet ihm und er verliert das
Bewußtsein.
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„Was
machst du denn da auf dem Boden und wie siehst du denn aus?“
Paul, der
zweite Mann vom Wachdienst steht vor Eduard und streckt ihm die Hand entgegen.
„Eduard,
du bist ja ganz schmutzig, dein Gesicht ist schwarz vor Ruß!“
Eduard
blickt auf das Bild hinter sich. Er sieht den rasenden Zug, die schwankende Brücke,
das tosende Wasser und ein Gefühl von Erschöpfung, Müdigkeit aber auch Glück
erfüllen ihn.
„Gute
Fahrt!“, sagt er leise.
„Ich bin
gefallen, ist schon wieder alles in Ordnung!“, er klopft an seiner Jacke und
seiner Hose herum und lächelt ein wenig.
„Mach
schon, die dritte Runde ist fällig.“ Paul geht kopfschüttelnd zur Treppe, um
seinen Rundgang im unteren Stockwerk fortzusetzen. „Er wird immer seltsamer.“,
murmelt er in sich hinein.
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