Der
gefundene Großvater
von Joana Angelides
Der alte Mann stand am Eingang zum Friedhof seiner
Heimatgemeinde und blickte ein wenig ratlos herum. Es waren viele Jahre, ja
Jahrzehnte vergangen, dass er das letzte Mal hier war. Natürlich hatte sich
viel verändert. Das Grab seiner Eltern war ganz am anderen Ende des Friedhofes,
an der alten Friedhofsmauer. Er ging durch die Reihen der alten und neuen
Gräber, Las bekannte Namen von altern Familien hier im Ort, aber auch sehr
viele neue. Hin und wieder sah er ein Lichtlein flackern, oder die neumodischen
neuen Kerzen mit Batterie ein wenig zittern.
Als er endlich am Grab ankam, legte er den
Blumenstrauß darauf und nahm Platz auf der Bank vor dem Grab. Er sprach ein
stilles Gebet. Dann blieb er ruhig sitzen.
Als er vor vielen Jahren neugierig und abenteuerlustig
in die Ferne zog, Ozeane überquerte und viele Menschen kennen lernte, wusste er
noch nicht, dass er seine Eltern nie wiedersehen wird. Ihr kurz aufeinander
folgender Tod traf ihm tief und er bereute es. Schriftlich, telefonisch und per
unzähligen Mails organisierte er das Begräbnis und überwies seitdem regelmäßig
die Kosten für die Grabpflege,
Nun, den Tod vor Augen ist er zurückgekommen. Er
braucht eine neue Niere und will das in der alten Heimat machen lassen, um im
Falle, dass es schiefgeht, neben seinen Eltern, hier am alten Friedhof begraben
zu werden, das ist sein letzter Wunsch! Denn er hat dort in der Ferne
irgendwann auch seine kleine Familie verloren und begraben, also würde dort
keiner an seinem Grabe stehen, wenn es so weit ist.
Er nahm sich vor, noch bevor er wieder den Friedhof
verlässt, mit dem alten Pfarrer sprechen. Doch nun blieb er noch eine Weile
sitzen und hörte der Stille zu, die nur durch leises Vogelgezwitscher und den
fernen Geräuschen des Verkehrs unterbrochen wurde. Außer ihm war kein Mensch
hier, alles schien einsam und friedlich zu sein.
Doch da bemerkte er ihn.
Ein kleiner Bub, vielleicht so sieben bis acht Jahre
ging zwischen den Gräbern herum. Er bemerkte, dass er an einigen Gräber stehen
blieb, sich bei zwei oder dreien sogar auf das Nebengrab setzte und zu
irgendjemand sprach. Was er sprach konnte der alte Mann nicht hören. Bei einem
Grab blieb er länger und las offenbar aus einem kleinen mitgebrachten Büchlein etwas
vor. Einmal lachte er sogar. Der alte Mann beschloss, ihn ein wenig zu
beobachten.
Das Kind holte sogar einmal die Gießkanne von der
Wasserstelle und begoss damit ein Grab. Dann ging er wieder.
Er lieb noch eine Weile sitzen, dann ging er hinüber
zum Pfarrhaus, das den Friedhof an einer Seite begrenzte.
Der greise Pfarrer saß auf der kleinen Bank vor dem
Haus und als er ihn kommen sah, stand er auf und kam ihm entgegen.
„Gregor, mein lieber Freund, schön Dich endlich
wiederzusehen!“, sie umarmten sich und Gregor setzte sich neben ihm auf die
Bank.
Sie waren einige Minuten ruhig, die Rührung übermannte
sie.
„Ach Pater Pelegrin, ich bin unendlich glücklich, dass
ich doch wieder einmal in der alten Heimat bin, wenn auch der Grund eher
bedrohlich ist! In einigen Tagen werde
ich unter dem Messer liegen und Gottes Gnade und der Kunst des Arztes
ausgeliefert sein. Doch so Gott es will, werden wir uns dann öfter sehen. Ich
werde hierbleiben, werde nicht wieder zurückgehen!“
Pater Pelegrin lächelte gütig und deutete ein Kreuz
über dem Kopf des alten Freundes an. Sie besprachen noch einige offene Fragen,
der Grabstein musste neuerlich befestigt sein und auch der Umfassungsstein.
Pater Pelegrin versprach sich darum zu kümmern.
Sie saßen noch bis zum Einbruch der Dunkelheit
zusammen, sie hatten sich so viel zu erzählen. Pater Pelegrin versprach, ihn im
Krankenhaus zu besuchen.
Doch bevor sie sich trennten, schilderte Gregor noch
seine Beobachtung von heute Nachmittag.
„Ja, das ist ein tragischer Fall. Das ist der kleine
Bastian. Vor drei Jahren hatte er seine Mutter verloren, Vater gab es nie, dann
wuchs er bei seiner Großmutter auf, doch auch die ist gestorben. Bastian war
und ist ein sehr stilles Kind. Irgendein Arzt stellte sogar fest, dass er ein
wenig autistisch ist. Er hat immer sehr wenig gesprochen und war immer eher
introvertiert. Er kam nach dem Tode seiner Großmutter dann ins Kinderheim und
seither spricht er fast kein Wort mehr“
„Nein, nein, er spricht schon, ich dachte vorerst,
dass da noch ein Kind sein musste, er ging zwischen den Gräbern herum und
sprach ununterbrochen!“, wandt Gregor ein.
„Ja und Nein! Er spricht nur mit den Toten am Friedhof
und mit Gott, wie er mir einmal im Beichtstuhl verriet. Er kommt manches Mal in
den Beichtstuhl, sitzt dann da, ohne was zu sagen und geht wieder. Hin und
wieder sagt er einen Satz“.
„Ja, kann er denn so immer allein vom Kinderheim
weggehen, fällt das niemand auf?“
„Doch natürlich; doch sie wissen, wohin er geht und
rufen dann immer bei mir an und ich habe ein Auge auf ihn und rufe dann zurück,
wenn er wieder den Friedhof verlässt. So haben wir ihn unter Kontrolle“
„Ja aber, wieso macht er das?“ fragte Gregor erstaunt.
„Er sucht einen Großvater! Ein Großvater ist alles,
was er sich wünscht! Seine Großmutter sagte immer, wenn er nach seinem
Großvater fragte, dass er schon viele Jahre am Friedhof ist. Leider ist dieser
aber nie aus dem Krieg zurück gekommen, es gibt also gar kein Grab! Und so sucht er ihn, fragt immer an den
Gräber, ob sie wissen, wo er denn sein kann. Da er keine Antwort bekommt, denkt
es sich offenbar die Antworten aus. Er erzählt ihnen Geschichten, erzählt ihnen
von der Schule und verspricht immer wieder, dass er wiederkommt!“, lächelte
Pater Pelegrin.
Gregor schüttelte den Kopf.
„Das ist ja erschütternd, Aber das kann ja so nicht
weitergehen. Gibt es denn niemand, der ihn aufnimmt, keine Familie, die
vielleicht auch einen Großvater hat?“
„Nein, niemand will ein offensichtlich gestörtes Kind,
er will aber auch nirgends hin, er hofft, dass er seinen Großvater finden wird
und dass dieser so einfach aus dem Grabe auferstehen wird“ seufzte Pater
Pelegrin.
Noch bis spät in die Nacht lag Gregor in dem kleinen
Hotel in seinem Bett und dachte an den Jungen.
Er hatte so ein kleines Gesicht, so große traurige
Augen, obwohl es aussichtslos erscheinen musste, dass eines Tages dieser imaginäre
Großvater auferstehen wird, gibt er nicht auf! Ein zäher kleiner Kerl!
Am nächsten Nachmittag macht er sich wieder auf den
Weg zum Friedhof, in der Hoffnung, dass er ihn wieder sehen wird. Er hatte einen Plan.
Und tatsächlich, am späteren Nachmittag kam der Junge
wieder. Er setzte sich vorerst auf einen der Bänke und verspeiste in aller Ruhe
ein belegtes Brot, dann wischt er sich seine Finger in der Hose ab und begann
seinen Rundgang. Er zupfte hier und dort ein wenig Unkraut weg, schmiss
verwelkte Blumen weg und goss die eine oder andere Grünfläche. Dazwischen
sprach er ununterbrochen, lachte sogar ein wenig.
Als er zur Bank kam, wo Gregor saß stutzte er. Er
blieb stehen und dreht sich um, als wollte er weggehen. Doch offensichtlich
übermannte ihn die Neugier, er kam näher.
„Wer sind Sie?“, fragte er und seine Stimme war hell,
aber doch ein wenig streng.
„Ich bin ein alter Mann, das da ist mein
Familiengrab!“ er deute auf das Grab seiner Eltern, „es ist auch mein Grab!“
Bastian stutzte einen Moment.
„Wenn das Ihr Grab ist, warum sitzen Sie dann hier auf
der Bank?“, seine großen Augen schienen ratlos
„Ich glaube, Gott hat mir noch eine Chance gegeben.
Vielleicht darf ich weiterleben!“, sagte Gregor.
Bastian hielt den Kopf schief, Zweifel sah man in
seinen Augen.
„Sind Sie ein Großvater?“, platzte es dann aus ihm
heraus.
„Nein, wäre aber gerne einer, aber leider habe ich
keinen Enkel, oder ich weiß es nicht genau!“, log er.
Bastian setzte sich nun neben ihm auf die Bank. Er
blickte hinauf zu dem großen alten Mann und etwas wie Hoffnung und Freude war
in seinem Blick. Seine kleine Hand, warm und ein wenig zittrig legte sich in
seine alte kalte Hand. Diese Berührung ging wie ein Stromschlag durch den
Körper des alten Mannes.
„Vielleicht bin ich Dein Enkel? Ich suche ja einen
Großvater und Großmutter hat immer gesagt, dass Du da am Friedhof bist! Geh
‘nicht wieder zurück, in Dein Familiengrab, ich würde Dich brauchen!“
Sie gingen dann Hand in Hand zum alten Pfarrhaus, zu
Pater Pelegrin.
„Pater Pelegrin, ich habe ihn gefunden!“ rief der
Kleine schon von Weitem!
In dieser Nacht lag nicht nur Gregor schlaflos und
glücklich in seinem Bett, sondern auch der kleine Bastian.
Gregor und Pater Pelegrin besprachen in den nächsten
Tagen, wie es weitergehen soll, der OP-Termin rückte immer näher. Ein Notar
wurde zugezogen und einiges amtlich bestätigt. Aufgrund der finanziell sehr
fundierten Lage des alten Mannes aus Übersee war es ein Leichtes, die Adoption
in die Wege zu leiten.
Nun musste nur noch die OP gelingen, Gott seinen Segen
geben und es werden zwei Menschen sehr glücklich sein.
Nach einer Woche im Krankenhaus konnte man aufatmen,
die Krisis war überstanden. Bastian war der erste, außer Pater Pelegrin, der
mit einem riesigen Blumenstrauß vor seinem Zimmer stand und alle Leute
anstrahlte, die vorbeikamen.
„Wo willst Du denn hin?“, fragte ihn die Stationsschwester.
Bastian strahlte sie an.
„Zu meinem Großvater!“, sagte Bastian, „ich habe ihm
vom Friedhof geholt!“
„Ja, das kannst Du laut sagen, es ist fast ein
Wunder!“, sagte diese und ging weiter.
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