Des Nachbars Garten.
von Joana Angelides
Seit Jahren steht das Haus
nebenan leer.
Das war für unsere vier
Kinder, Lisa, Petra und die Zwillinge Max und Tobias, immer ein Paradies. Sie
kletterten über den Zaun, oder machten rückwärts, wo es niemand sah, ein Loch
in die brüchigen Bretter. Unsere Einwände quittierten sie mit Unverständnis.
Man konnte so wunderbar
Verstecken spielen, man konnte in dem Keller auf Entdeckungsreise gehen und im
Garten toben.
Besonders als ihr Vater starb
und sie sich zunehmend enger aneinander klammerten wurde der verwilderte Garten
zu ihrer Enklave.
Ich wünschte mir, auch so
eine Enklave zu haben um mich verstecken zu können, meinen Schmerz
hinausschreien zu können. Doch für Erwachsene mitten im Kampf des Lebens, ist
so etwas nicht vorgesehen.
Eines Morgens schien das
Paradies gefährdet! Es erschien ein Bulldozer vor dem Gartenzaun und zwei
Männer drangen in den Garten ein.
Die Kinder standen oben am
Giebelfenster ihres Kinderzimmers und schauten ängstlich in ihr Paradies, das
offenbar zerstört werden sollte. Jedes Mal, wenn eine der Hecken oder Sträucher
umgerissen und aufgehoben wurden von dieser grausamen, mit Zähnen bestückten
Baggerschaufel, entfuhr ihnen ein kleiner Schrei.
Nach drei Tagen war das Werk
vollendet und der Platz rund um das alte Haus war nackt und kahl und man konnte
nur mehr die braune Erde sehen.
Die Kinder standen am Fenster
und blickten traurig und verzweifelt hinunter auf diese Einöde.
Das wird ein trauriger Sommer
werden.
Die Zwillinge begannen
irgendwelche Brettspiele zu spielen, Lisa und Petra nahmen ihre Puppen zur Hand
und spielten lustlos mit ihnen herum.
Ich bemühte mich immer
wieder, sie aufzumuntern, sie für andere Dinge zu interessieren, doch es war
vergebens.
In den folgenden Wochen war
emsiges Treiben in Nachbars Garten.
Es wurde ein kleiner Teich
ausgehoben, neue Pflanzen wurden gesetzt und ein neuer Zaun rundherum gezogen.
Dahinter wurden hohe Tujen gesetzt und man konnte dann von der Straße nicht
mehr hineinsehen. Jedoch von dem beiden Giebelfenster unseres Hauses, die zum
Garten hinüberschauten, sehr wohl, was von den Kindern reichlich ausgenutzt
wurde.
Sie berichteten täglich, was
es Neues gab in „ihrem“ Garten, ja sie entwickelten eine Art Wettbewerb, wer
früher irgendeine Veränderung sah.
Das Haus wurde ebenfalls renoviert,
vom Keller bis zum Dachoden. Neue Fenster und Türen wurden geliefert und die
Außenfassade wurde neu gestrichen.
Dann kam der große Tag.
Ein großer Möbelwagen
lieferte Inventar und Teppiche und allerlei Kleinmöbel.
Da sahen wir „ihn“ das erste
Mal. Ein groß gewachsener Mann in den Fünfzigern, mit Bart und Brille
dirigierte die einzelnen Möbelstücke und auch alle anderen Pakete ins Haus.
Er gefiel den Kindern gar
nicht. Er war der Inbegriff des Bösen für sie. Hatte er ihnen doch ihr Paradies
weggenommen!
In den darauffolgenden Tagen
wurde es wieder ruhig um das Nachbargrundstück. Von dem Mann war fast nichts zu
bemerken. Er verließ am Morgen das Haus und kam meist recht spät wieder zurück.
Nie sah man ihm in seinen
schönen Garten. Er war scheinbar nur ein schönes Rundherum, das er nicht
beachtete. Die Pflege hatte eine Firma übernommen, die zweimal die Woche einen
Mann schickte, der den Garten pflegte.
Dann kam wieder einmal ein
Wochenende. Die Kinder spielten Ball in unserem bescheidenen kleinen Garten und
warfen immer wieder sehnsüchtige Blicke nach nebenan, doch war ihnen die Sicht
ja durch die gepflanzten Tujen verwehrt.
„Oh, der Ball!“ Hörte ich sie
plötzlich rufen und gleichzeitig ein klirrendes Geräusch.
Alle vier standen am
Gartenzaun zum Nachbargrundstück und versuchten zwischen den Hecken
durchzuschauen.
Was war geschehen? Sie hatten
den Ball hochgeworfen und er fiel hinüber, in des Nachbars Garten. Sie waren
sichtlich erschrocken und auch verärgert. Sie konnten ja nun nicht weiterspielen.
Dem klirrenden Geräusch zu
Folge musste der Ball auch irgendetwas umgestoßen und zerbrochen haben.
Doch trüben rührte sich
nichts.
Sie liefen nun alle in ihre
Zimmer hinauf, um besser in den Garten blicken zu können. Ich natürlich
hinterher!
Da standen wir nun und
starrten hinüber. Der Ball lag mitten auf der Wiese neben einem Baum und eine
zerbrochene rote Glaskugel daneben. Er hatte im ganzen Garten Glaskugeln auf
hölzernen Stöcken verteilt und diese erzeugten bei Wind wundersame Geräusche,
die wir uns bisher nicht erklären konnten.
Da öffnete sich die
gartenseitige Türe und der Mann kam heraus. Er blickte sich suchend im Garten
um und erblickte den Ball.
Als er die Türe öffnete sind
wir alle vom Fenster zurückgewichen, um nicht gesehen zu werden, was ich
natürlich sehr albern fand.
Ich ging wieder zum Fenster
und konnte sehen, dass er den Ball aufhob und mit ihm wieder im Haus verschwand.
„Mama, tu was! Wir wollen ja
weiterspielen!“
„Tja, wenn ihr weiterspielen wollte, müsst ihr
hinübergehen und euch entschuldigen und um den Ball bitten. Außerdem werden wir
die Glaskugel ersetzen müssen!“
Nun beratschlagten sie, wer
nun hinübergehen wird und kamen zu dem Schluss, dass sie gemeinsam, also alle
Vier, hinübergehen werden.
Ich vermutete, dass da auch
die Neugierde eine Rolle spielte.
Als ich sie da so unschlüssig
dastehen sah, entschloss ich mich, ebenfalls mitzugehen.
Also machten wir uns auf dem
Weg zu unseres Nachbarn Garten.
Wir standen vor der
Gartentüre und klingelten.
„Ja?“ Tönte es aus der
Sprechanlage.
Ich nahm meinen ganzen Mut
zusammen und stellte uns vor und erklärte die Sachlage und bot an, die
Glaskugel zu ersetzen. Ich kam mir
reichlich komisch vor, als ich wegen so einer banalen Sache mit einer
Sprechanlage sprechen musste.
„Haben denn die Kinder keinen
anderen Ball?“
„Nein, leider. Wir haben nur
einen Ball.“ Ich genierte mich plötzlich, dass meine Kinder keinen zweiten Ball
hatten und das machte mich wütend.
Die Sprechanlage blieb stumm
und wir standen noch immer da.
„Kommt, wir gehen. Ich werde
euch morgen einen neuen Ball kaufen. Das heißt ich werde euch zwei neue Bälle
kaufen.“ Ich sagte es laut und deutlich und hoffte, dass dieser Unmensch durch
seine Sprechanlage es auch hören konnte.
Ich nahm meine vier Kinder
und wir gingen wieder zurück. Sie ließen die Köpfe hängen und in mir stieg ein
unglaublicher Zorn auf. Was dachte sich dieser Kerl eigentlich?
Zuerst nahm er meinen Kindern
„ihr“ Paradies weg und dann verweigerte er ihnen auch noch den Ball, der ja
schließlich ihnen gehörte.
Ich wusste natürlich, dass
ich im Unrecht war, rein juristisch. Aber wo blieb die menschliche Seite?
Die Kinder setzten sich dann
unter dem einzigen Baum in unserem Garten und vom Küchenfenster konnte ich
sehen, dass sie das Problem scheinbar eingehend diskutierten.
Und da geschah es!
Über die Tujen-Hecke kam der
Ball geflogen und als die Kinder jubelnd aufsprangen kam gleich noch ein Ball
geflogen.
Ich ging in den Garten und
die Kinder zeigten mir strahlend diesen zweiten Ball.
Es war kein neuer Ball, er
war abgegriffen und teilweise war die Farbe weg. Er schien schon einige Jahre
alt zu sein und mir kam der Gedanke, dass es vielleicht sein alter Ball aus der
Kindheit sei?
Dann musste er ihn mit seinen
Dingen mitgebracht und nun rausgesucht haben. Sentimental?
Die Kinder riefen über die
Hecke noch ein Dankeschön, doch es kam keine Antwort.
In den nun folgenden Tagen
schien es mir, als ob ich seine große Gestalt undeutlich an der Hecke sah, wenn
die Kinder im Garten spielten.
An einem der nächsten
Samstage, als ich mit den Kindern wieder einmal zum Großeinkauf im Supermarkt
war, trafen wir ihn. Völlig unvermutet stand er plötzlich vor uns und hatte
Ein Boggia-Spiel in der Hand
und las die Erklärung zur Aufstellung durch.
Es war augenscheinlich, dass
er sich da überhaupt nicht auskannte.
Wir begrüßten ihn und ich
sprach ihn auf die zerschlagene Glaskugel an.
„Ach, nicht der Rede wert!“
Seine Stimme war viel sympathischer ohne diese unpersönliche
Sprechanlage.
Inzwischen hatte sich Tobias
mit der Aufstellungserklärung des Spieles beschäftigt und erklärte Max genau,
wie man das aufstellen muss.
„Mama, wir wollen auch so ein
Spiel!“ Da waren sie sich wieder einig.
„Wir haben keinen Platz
dafür.“ Und außerdem hatte ich momentan für solche Dinge kein Geld übrig. Aber
das wollte ich meinem Nachbar ja nicht unbedingt wissen lassen.
„Wir werden das Spiel in
meinem Garten aufstellen und ihr kommt rüber, da können wir dann einen
Wettbewerb machen.“
Die Kinder waren sprachlos
und starrten den Mann an.
Plötzlich war jede Scheu und
Abneigung gegen ihn verflogen, sie jubelten und besprachen mit ihm sofort, wo
man am besten mit dem Aufbau beginnen sollte und was man alles dafür braucht.
Ich dachte schon, sie hätten mich
völlig vergessen, wenn da nicht manchmal über den Köpfen der Kinder ein
fragender, forschender Blick aus dunklen Männeraugen zu mir gedrungen wäre.
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