Träume und Täuschungen
von Joana Angelides
Der Bus ist nur halbvoll.
Ich entscheide mich wie immer für einen Platz ganz rückwärts auf der
Bank. Da kann ich mich zurücklehnen und die Landschaft an mir vorbei gleiten
lassen.
Wenn man jeden Tag die selbe Strecke fährt,
kennt man jeden Baum, jeden Strauch und jeden größeren Stein am Straßenrand.
Die in der Regel
gepflegten Häuser liegen meist ein wenig weiter weg vom Straßenrand und lassen
der Fantasie freien Raum.
Ich lehne mich immer genüsslich an die Polsterung und schließe die Augen,
wenn ich spüre, dass der Bus anfährt. Einige nehmen ihre Zeitung heraus, andere
wieder ein Buch zur Hand, oder dösen ebenfalls vor sich hin.
Wir haben eine Stunde und zwanzig Minuten Zeit, bis wir an unserer
Bestimmungsstation ankommen.
Der Bus wird jedoch einige Male anhalten und wohlbekannte Gesichter
steigen mit einem kurzen Gruß ein
Wir kennen uns fast alle, fahren wir doch täglich diese Strecke und
fast alle haben ihren Stammplatz, den ihnen keiner streitig macht.
Seit einer Woche jedoch ist alles anders. Gleich an der ersten
Haltestelle steigt ER zu.
Und jeden Tagt stellt sich mir die Frage, wird ER heute wieder da sein?
Mir fällt auf, dass ihn die anderen Fahrgäste überhaupt nicht beachten,
wenn er
einsteigt.
Sein Anzug ist hellblau, mit glitzernden Steinen am Revers und einem
weißen Rüschenhemd. Eigentlich für den frühen Morgen absolut nicht passend,
aber es stört nicht wirklich.
Von dem Augenblick an, wo ER in den Bus einsteigt, fängt diese leise
Musik zu spielen an, die mir nun schon sehr gut bekannt ist. Der Bus wird
langsamer, hebt sanft ansteigend ab und schwebt mehr über die Landstraße, als
er fährt.
Die Sitze werden zu Barhockern und die Fahrerbox zu einer Bar-Theke. Der
Chauffeur steht nun hinter der Theke und schenkt mit einem gewinnenden Lächeln
Drinks aus.
Die Fahrgäste sitzen meist zu zweit ebenfalls an der Bar und prosten
sich zu. Nur die ältere Lehrerin liest weiterhin in ihrem Buch, nippt aber doch
verschämt an einem giftgrünen Likörglas.
Wer fährt eigentlich den Bus?
Ich lehne immer ganz am Ende der Theke, mit dem Rücken zur Wand und
halte ebenfalls ein Cocktail-Glas in meiner Hand. Es ist immer ein deja vu, aber
jedesmal prickelnd und geheimnisvoll.
Mein blauer Prinz, so nenne ich ihn inzwischen, schwingt sich auf den leeren
Hocker neben mir, nimmt meine Hand und nippt aus meinem Glas. Gleichzeitig
blickt er mir tief in die Augen und ich kann in seiner Pupille eine kleine
Flamme tanzen sehen.
Heute kam es zu einer Störung der Idylle. Bei der vorletzten Station
stiegen zwei Männer in schwarzen Anzügen ein und musterten die Fahrgäste
eingehend.
„Oh“, sagte ER zu mir gewandt, „da sind sie wieder einmal!“
„Wer?“ fragte ich erstaunt.
„Die Gedankenpolizei!“ flüsterte er.
Gedankenpolizei? Was meinte er damit? Durch die Ablenkung und mein
intensives Nachdenken beeinflusst, veränderte sich wieder alles im Bus.
Plötzlich saßen wieder alle auf ihren Plätzen und lasen in ihren Zeitungen und Büchern, als wäre nichts geschehen. Die ältere Lehrerin hatte nun eine kleine vorbereitete Flasche mit ihrem grünen Tee in der Hand anstelle des Cocktail-G
lases und nahm verschämt einen Schluck.
Auch der Chauffeur saß wieder an seinem Platz und die Geräusche des
Verkehrs nahmen überhand. ER war verschwunden, ebenso die Bar mit ihren
Hockern.
Auch die beiden Männer in schwarz waren nirgends zu sehen und doch
spürte ich ihre Nähe.
Was war nur mit Gedankenpolizei gemeint, sollten es meine Gedanken
sein, die sie mir vorgaukelten?
Auch über https://www.bookrix.de/-joanavienna/
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