Der
zerbrochene Engel
Wie in jeder der vergangenen
drei Vollmondnächte saß er auch in dieser Nacht auf dem dunklen Stein des
Mausoleums in der Ecke des Friedhofes und starrte auf den weißen Marmorengel
hinüber.
Seine Gestalt faszinierte ihn, die Reinheit im Gesichtsausdruck forderte seine
Fantasie heraus.
Der Mond wurde nun teilweise von vorbeiziehenden dunklen Wolken verdeckt und
die Schatten wurden dichter.
Er wußte, es waren nur noch einige Minuten bis Mitternacht und dann war es
soweit. Vom nahen Kirchturm tönten die zwölf Schläge in die Nacht. Der Engel
bewegte sich plötzlich und senkte die Arme, die sonst immer wie schützend über
dem Grab unter ihm ausgestreckt waren. Es war eine Skulptur aus Marmor, mit
langem gelockten Haar und einem wallenden, faltigen Umhang.
Der Engel setzte sich auf die Grabumrandung und schlang seine Hände um die
Knie, als würde er sich ausruhen wollen.
Aus der dunklen Ecke rechts glitt der dunkle Schatten heraus und positionierte
sich hinter ihm.
Seine linke Hand reckte sich aus dem schwarzen, rot ausgeschlagenen Umhang
hervor und berührte den Engel an der Schulter. Dieser sprang auf und starrte
mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit.
Die Gestalt hinter ihm verschmolz fast mit den Schatten der Grabsteine und des
Baumes, der dahinter seine Zweige ausbreitete.
„Wer ist da?“ Die Stimme war ängstlich, belegt und ein wenig schrill.
„Nur ich, ein Freund, habe keine Angst!“ Durch das Ausbreiten seiner beiden
Hände wurde der Umhang geöffnet und das blutrote Futter leuchtete fast drohend.
Dieses Rot war beängstigend, es war am Friedhof ungewohnt.
„Nein, laß mich los, ich kenne dich gar nicht, sah dich hier noch nie!“
„Ich bin jede Nacht hier, ich sitze da drüben“, er deutete in die dunkle Ecke
neben dem Mausoleum, „und bewundere dich jede Nacht. Ich liebe die Art, wie du
deine Haare trägst, ich bewundere deine zarte Gestalt, wie sie sich durch den
in Marmor gemeißelten Faltenwurf durchdrückt, als würdest du atmen!“
„Höre auf, ich will das gar nicht hören“, der Engel streckte beide Arme
abweisend nach vorne.
Doch die dunkle Gestalt wich keinen Zentimeter zurück. Er wußte was er wollte.
Er wollte diesen wunderschönen Engel nie wieder an den kalten Marmor verlieren,
er mußte diese Stunde nutzen, ihn in seine Welt herüber zu retten.
Diese Stunde, Mitternacht am Gottesacker, lockte nicht nur den Engel aus der
Erstarrung, es waren auch andere dunkle Gestalten unterwegs, die sie
beobachteten, um sie herumschlichen. Man hörte leises Flüstern, hüsteln aus
dunklen Umhängen, bleiche Gesichter und lange dünne Finger, die diese Umhänge
hielten. Gierige Augen bohrten sich in die weiße unschuldige Gestalt, als
wollten sie sie aufsaugen.
Er stelle sich hoch aufgerichtet vor den verängstigten Engel, seine Arme waren
nach rückwärtsgerichtet, als wollte er die Gestalt an sich pressen und
verdecken.
Inzwischen hatte sich der Engel ganz bis zu dem Grabstein zurückgezogen und
kauerte erschrocken am Kopfende des Grabes.
Viele dunkle Gestalten umringten die beiden und es drangen Zischlaute,
höhnisches Lachen und drohendes Gemurmel herüber. Die schwarzen Vögel des
Friedhofes krächzten erschrocken und mancher flog tief, quer über die
gespenstige Szene
„Geht weg, verschwindet!“ Er schrie es laut und mit hoher Stimme.
Der Engel begriff nicht, was geschah. Doch es machte sich das trügerische
Gefühl in ihm breit, dass er von dieser hohen, dunklen Gestalt, die ihm vorher
Furcht eingeflößt hatte, nun beschützt wurde.
Er richtete sich auf und suchte hinter dem breiten Umhang des vor ihm
stehenden, Schutz.
Das Gefühl die ihm die hinter ihm zitternde Engelsfigur vermittelte, der mit
fliegendem Atem an ihn gepreßter Körper, gab ihm Kraft und mit einer raschen,
wilden Bewegung verscheuchte er die dunklen schwebenden Gestalten rund um sie
und drehte sich rasch um.
Nun blickten sie sich direkt in die Augen, der weiße Engel und der Vampir mit
seinen brennenden Augen in den dunklen Höhlen.
Seine schlanken, fast dünnen Finger glitten in die herabfallenden Haare, zogen
das Gesicht ganz nah heran und bevor der Engel begriff was geschah, neigte der
Vampir seinen, in der Kapuze fast verschwundenen Kopf und glitt zu dem weißen
Hals, der sich ihm nun offen dar bot.
Es war nur ein kurzer Schmerz, dem ein wohliges Gefühl folgte. So fühlte es
sich an, wenn ein wenig warmes Blut langsam am Hals entlang herabfließt. Es
waren jene Tropfen, die sein gieriger Mund nicht auffangen konnte.
Der Engel konnte sich kaum bewegen, nicht verhindern, dass der Lebenssaft aus
ihm herauslief.
Seine Seele, die nur für diese eine Stunde erwachen sollte, löste sich von ihm
und ging über in schwarze Schleier, die sich zu einer durchsichtigen dunklen
Gestalt formten.
Als die nahe Kirchturmuhr Ein Uhr schlug, war die Symbiose abgeschlossen, triumphierendes
Lachen der dunklen Gestalt weit in die Nacht zu hören.
Er ließ die marmorne, steinerne Gestalt los. Sie fiel zu Boden und zerschellte
in viele Stücke.
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